Dinanukht

Aus Daimon

Thomas Rainer

Dinanukht oder Hibil Ziwa, Alma Risaia Rba (The Great "First World"), Bodleian Library, MS. Drower Collection 4, Illustration einer Handschrift einer mandäischen Gemeinde aus dem Südirak, dat. 1224 AH / 1809-10 n. Chr.

Im heiligen Buch der Mandäer, dem in eine rechte und linke Hälfte geteilten Ginza, wird ein Wesen mit dem Namen Dinanukht beschrieben, das zwischen den Wassern der Welten sitzt.[1] Halb Buch, halb Mensch ist es damit beschäftigt sich selbst zu lesen. Eines Tages wird es von einem kleinen Buch mit dem Namen Disai gestört, das Dinanukht wie folgt anspricht: „Es gibt ein Leben, das von Anbeginn da war und es gibt eine Wahrheit, die vor Anbeginn da war. Es gibt Leuchten und es gibt Licht. Es gibt Tod und es gibt Leben. Es gibt Finsternis und es gibt Licht. Es gibt Irrtum und es gibt Wahrheit. Es gibt Zerstörung und es gibt Schöpfung. Es gibt die Wunde und es gibt Heilung. Es gibt einen hohen Menschen der älter ist und vor dem Schöpfer von Himmel und Erde da war.“ Nach Gehör dieser Worte fragt Dinanukht ihren Überbringer nach dem Ort dieses Lebens. Als er keine Antwort erhält verbrennt er das kleine Buch und wendet sich erneut seinem Selbststudium zu. Doch das kleine Buch mit Namen Disai sucht ihn erneut auf und wiederholt seine Worte. Wiederum fragt Dinanukht nach dem Ort des verkündeten Lebens und als er abermals keine Antwort erhält, ertränkt er das Buch. Beim dritten Besuch des hartnäckigen Disai, lässt Dinanukht das kleine Buch schließlich den ganzen Tag offen vor sich liegen. Als er einschläft, ereilt ihn eine Vision. Es erscheint der Geist Ewath Ruha, der sich Dinanukht als das Leben, das von Anbeginn da war, offenbart: „Warum liegst du da, Dinanukht? Warum schläfst du gern? Ich bin das Leben, das von Anbeginn da war. Ich bin die Wahrheit, die vor Anbeginn da war. Ich bin das Leuchten. Ich bin Licht. Ich bin Tod. Ich bin Leben. Ich bin Finsternis. Ich bin Licht. Ich bin Irrtum. Ich bin Wahrheit. Ich bin Zerstörung. Ich bin Schöpfung. Ich bin Licht. Ich bin Irrtum. Ich bin die Wunde. Ich bin Heilung. Ich bin der hohe Mensch, der älter ist und der vor dem Schöpfer von Himmel und Erde da war. Ich habe keine Gleichen unter den Königen, und in meinem Königreich gibt es noch keine Krone. Es gibt keinen Menschen, der mir in den Nebelwolken der Finsternis eine Botschaft bringen kann.“ Sofort bricht Dinanukht auf und beginnt in Begleitung des Geistes seinen Aufstieg durch die verschiedenen Fegefeuer, bis er das letzte Purgatorium vor dem „Haus des Lebens“ selbst erreicht. Dieses „Haus des Abatur“ genannte Purgatorium entpuppt sich als Verwahrungsort all derjenigen Gegensätze, von denen das Buch Disai zu berichten wusste. Auch sind die präexistenten Seelen der zukünftigen Menschen dort gespeichert. Dinanukht möchte darauf die letzte Welt des Lichts erreichen, doch wird ihm beschieden, er müsse zu den Menschen zurückkehren, um ihnen von seinen Erlebnissen zu berichten. Dinanukht tut, wie ihm geheißen. Als er zurückkommt wird sein nachfolgendes Verhalten selbst von seiner eigenen Frau Nuraita für verrückt erklärt.

Wer ist der Geist Ruha? In der Forschung zur mandäischen Mythologie hat sich Jorunn Jacobson Buckley mit dieser Frage eingehend auseinandergesetzt.[2] Entgegen den älteren Meinungen, die dem Geist ausschließlich negative Eigenschaften zuschrieben und ihn fest in der Unterwelt verorteten, verwies Buckley auf eine Reihe Stellen im Corpus mandäischer Literatur, in denen Ruhas Rolle, wie in der oben zitierten Passage, ambivalent erscheint. Durch Ruha wird die strenge Dichotomie einer Welt des Lichts und einer der Finsternis, die für die mandäische Religion als charakteristisch vorausgesetzt wurde, aufgehoben und durch ein drittes Element verbunden. Zum positiven Reich des Lichts und dem Negativen der Finsternis tritt das Leben, das beide Aspekte teilt. Ruha steht für die sich selbst schaffende und zerstörende Natur, die die Potenz von Existenz und Nicht-Existenz verwirklicht. Der Lebensgeist bildet die Schwelle zur Möglichkeit des Gegenteils, jenem idealen Spiegelbild, dem dmuta, das ein jedes Ding in der gelebten Welt mit seiner unerschöpften Vollkommenheit im Reich des Lichts verbindet. Als eigentliche Frage des Buches Dinanukht erweist sich so die nach der Verwirklichung der Autoreferenzialität des selbstlesenden Texts im Leben. Die Erzählung variiert eine Reihe messianischer Motive, deren Kernthema die Suspendierung des in Buchform überlieferten Gesetzes durch eine Offenbarung im Lebenszeugnis ist. Dabei nimmt der Geist Ruha die Position jener Wächterfiguren ein, die wie Kafkas Türsteher die Schwelle zwischen erlöster und unerlöster Welt bewachen und durch ein sonderbar widersprüchliches Verhalten genötigt, das Eintreten des Messias gerade durch ihre Trennung von der Lichtwelt ermöglichen. Ruha bleibt an die unvollkommenen Schöpfungen des Lebens gefesselt, solange bis sie am jüngsten Tag als dmuta alle Widersprüche des Lebens in einer vollkommenen Form vereint. Erst dann wird ihre wahre Bedeutung offenbar und die Verrücktheit Dinanukhts wird als konsequente Strategie der Überschreitung des Gesetzes im Leben zur Herbeiführung der messianischen Zeit ersichtlich werden.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Mark Lidzbarski, Ginza. Der Schatz oder das große Buch der Mandäer, Göttingen 1925, S. 206-211.
  2. Vgl. Jorunn Jacobson "Buckley, Two Female Gnostic Revealers", in: History of Religions, 19, 1980, S. 259-269 und Jorunn Jacobson Buckley, "A Rehabilitation of the Spirit Ruha", in: History of Religions, 22, 1982, S. 60-84.