Frankenstein
Aus Daimon
Im kalten Sommer 1816, den Mary Wollstonecraft (1797 - 1851) zusammen mit ihrem späteren Ehemann Percy Shelley und Lord Byron am Genfersee verbrachte, nahmen Gedanken und Gespräche über die Urzeugung, Alchemie, Elektrizität, den Prometheus-Stoff, Spukgeschichten und Miltons Paradise Lost großen Raum ein. Insbesondere Geschichten über den Ursprung des Lebens und die künstliche Schaffung von Leben faszinierten Mary Shelley, worüber sie im Vorwort zur Auflage von 1831 schreibt: "Sie (Percy Shelley und Lord Byron) unterhielten sich über Dr. Darwins (Erasmus Darwin, Großvater von Charles Darwin) Experimente (…), der ein Stückchen Regenwurm in einem Reagenzglas so lange aufhob, bis es sich auf wundersame Weise selbständig zu bewegen begann. So allerdings würde Leben nicht entstehen. Vielleicht würde man eine Leiche wieder zum Leben erwecken. Der Galvanismus hatte Beispiele dieser Art geliefert: vielleicht ließen sich Einzelteile eines Menschen herstellen, zusammensetzen und mit Lebenskraft beseelen?"[1]
Eine weitere zu dieser Zeit geläufige Geschichte, bei der Fadennudeln zu Leben erweckt wurden, ging ebenfalls auf Erasmus Darwin zurück. Im Zuge seiner Experimente zur Madentheorie und Generatio spontanea glaubte er, die Entstehung von Fadenwürmern aus verwesenden Vermicelli entdeckt zu haben. Die Verwandlung von Fadennudeln in Fadenwürmern galt ihm als Beweis für die Lehrmeinung der Urzeugung, die vor allem Lamarck propagierte. Wenn aus Nudeln Würmer und aus Fleisch Maden hervorgehen konnten, war auch die Entstehung neuen Lebens aus toten Körpern möglich.
Die zweite Inspirationsquelle waren jene in dieser Zeit viel diskutierten galvanischen Experimenten an Tieren und Menschen, bei denen durch elektrischen Strom heftige Muskelbewegungen an toten Körpern hervorgerufen werden konnten. Ausgehend von Galvanis und Voltas elektrischen Versuchen an Fröschen im späten 18. Jh. demonstrierte Giovanni Aldini (1762-1834) an der Leiche des 1803 in London hingerichteten Doppelmörders George Forster Muskelreizungen. Andrew Ure (1778-1857), der ähnliche Experimente durchführte, behauptete, auf diese Weise könnten eines Tages Tote wiederbelebt werden. Mary Shelley, die von der Golem-Legende beeinflusst war, ersetzte die kabbalistischen Formeln durch Elektrizität, um toter Materie Energie einzuhauchen. Dem Zeitgeist gemäß hieß damit der moderne Dämon Elektrizität.[2] Das Fundament für literarische Geschichten, die sich mit technomorphen Schöpfungsmythen beschäftigen und künstliches Leben und künstliche Intelligenz aus dem Geist der Elektrizität denken, war gelegt. Mary Shelley veröffentliche 1818 ihren Roman Frankenstein or The Modern Prometheus und Percy Shelley 1820 sein Drama Prometheus Unbound. Das literarische Thema spiegelt nicht nur das kulturelle Gedächtnis des frühen 19. Jhs. wider, das bereits stark von frühen popkulturellen Phänomenen durchdrungen war und sich aus wissenschaftlichen Experimenten und Beobachtungen speiste. Es bereitetet auch das Substrat für neue Mythen und die Entwicklung, alte Mythen mit Wissenschaft und Technologie zu verbinden. In Folge wurde Thomas Alva Edison immer wieder als moderner Frankenstein beschrieben, etwa von Villiers de L’Isle-Adam in seinem Roman L’Ève future (1886, dt. Edisons Weib der Zukunft, 1909) oder von Lyman Frank Baum in seiner Geschichte The Master Key: An Electrical Faire Tale (1901), in der wie aus Aladins Wunderlampe der Dämon der Elektrizität erscheint. Im 20. Jh. konkretisiert sich die Wunderlampe und wird zur Universalmaschine Computer, die künstliche Wesen in Form Künstlicher Intelligenz hervorbringt.
Einzelnachweise
- ↑ Mary Wollstonecraft Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Stuttgart 1986, S. 10.
- ↑ Shelley benennt Frankensteins Schöpfung in ihrem Roman als Dämon, wobei ungeklärt bleibt, ob der Dämon der Elektrizität sich des toten Fleisches bemächtigt hat oder das Monster synonym als Dämon beschrieben wird. Unabhängig davon avanciert das Labor zu einer Stätte der Evokation, um höhere Mächte mittels Wissenschaft und Technologie anzurufen.