Genie

Aus Daimon

Geist und Medium

Jan Gossaert gen. Mabuse, Der hl. Lukas malt die Madonna, um 1520.

Mythographisch gesprochen fungiert der geniale Künstler als Medium einer höheren Macht und Idee, von der er besessen ist. Der Genius oder Dämon fährt in den Künstler und inkarniert in seinem Körper, um vergleichbar einem Avatar Zugang zur materiellen Welt zu erhalten. Der Genius ist des Künstlers innere Notwendigkeit, das Daimonion seines Kunstwollens. Das Wesen des Genies ist schizophren und seine Kunst übermenschlich. Als Mensch ist er leibliche Hülle und Malwerkzeug im Dienst eines höheren Auftrags; als Genie spricht aus ihm eine fremde Stimme und befindet er sich im Zustand der Glossolalie. Exemplarisch für das Künstlergenie steht die Legende vom Evangelisten und Malerpatron Lukas, wie sie Jan Gossaert darstellt: Das Jenseits bricht in die Malerstube ein und ein Engel führt dem Künstler die Hand. Lukas ist ein früher Medienkünstler, der die dämonische Telekommunikation nutzt, um Bilder abseits von Mimesis und Imitatio authentisch in Farbe zu übersetzen. Erfolgt die Schaffung eines genialen Kunstwerks ohne Vermittlung der Künstlerhand, fallen die Bildwerke aus den Wolken direkt vom Himmel auf die Erde, was in der Kunst- und Religionsgeschichte mit Acheiropoieton beschrieben wird.

Séancen und Techniken der Écriture automatique stehen in dieser Tradition und nutzen den Menschen als Medium zur Übertragung verborgener Botschaften. Bilder und Texte entstehen unter Einfluss höherer Kräfte unbewusst und scheinbar ohne menschliches Zutun.

Écriture automatique als Medium der Prophetie nach Allen Kardic.

Im technischen Zeitalter digitaler Generierung und künstlicher Intelligenz verlagert sich das Genie über die Ingenieurskunst und Kybernetik in die Maschine.

Furor divinus

Sigmar Polke, Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!, 1969. „So ist meine Malerei in ihrem tiefsten Wesen eine Auftragsmalerei, und ich schmeichle mir, immer nach höherer Vorlage gearbeitet zu haben.“[1]

Auf Platon geht die Vorstellung zurück, dass jede Inspiration göttlichen Ursprungs sei und aus dem Genie ein göttlicher Sinn, aber auch Wahnsinn spricht: "(…) daß diese schönen Gedichte nicht Menschliches sind und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn besitzt. Um dies zu zeigen, hat recht absichtlich der Gott durch den schlechtesten Dichter das schönste Lied gesungen."[2] Darauf baut die genieästhetische Tradition auf, die im Künstler eine höhere Wirkmacht im Sinne einer poeta vates, poeta alter deus oder allgemeiner einer metaphysischen inspiratio am Werk sieht. Der Künstler ist besessen und dämonisch oder nach Stefan Zweig: "Der Künstler ist - erste Form, erster Eindruck - das hypnotisierte Medium eines höheren Willens."[3] Damit ist der Künstler kein autonomes Subjekt, sondern Medium und Avatar. Aus ihm sprechen wie im Zustand der Glossolalie fremde Stimmen oder wie Nietzsche konstatiert: "(Der Künstler) ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt."[4] Der furor divinus oder göttlich schöpferische Taumel begründet den kunsthistorischen Archetypus von Genie und Wahnsinn, den Seneca auf den Punkt bringt: "Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit." (Keiner der großen/schöpferischen Geister war frei von Wahnsinn.)[5]

Dämon des Subjekts

Das Bild des Künstlers als exzentrisches Genie wird im Kunstverständnis der Renaissance zum grundlegenden Motiv einer individuellen und originären Schaffenskraft. Allerdings verliert der Geniebegriff seinen transzendenten Aspekt und wird, wie der Kunsthistoriker Arnold Hauser schreibt, zu einem bis dahin unvorstellbaren Programm geistiger Originalität. Das Genie ist nicht mehr Medium einer höheren Macht im Sinne eines Genius oder Dämons, die im Künstler inkarnieren und wirken, sondern es ist erstmals Subjekt. Die Idee vom Genie wurde zum logischen Resultat des neuen Kultes um die Individualität: "Die Entwicklung des Geniebegriffs beginnt mit der Konzeption des geistigen Eigentums. Im Mittelalter fehlt sowohl diese Vorstellung als auch der Wille zur Originalität (...). Solange die Kunst nichts als die Darstellung der Idee Gottes und der Künstler nur das Medium ist, durch welches die ewige, übernatürliche Ordnung der Dinge sichtbar wird, kann weder von einer Autonomie der Kunst noch von dem Eigentum des Künstlers an seinem Werk gesprochen werden."[6] Der Geniebegriff wird zum Originalitätsversprechen eines Werkes und der Künstlername zur Marke. In der Entwicklung eines säkularen, bürgerlichen Kunstmarktes spielen beim Verständnis des Geniebegriffs ab nun kapitalistische Aspekte wie Aufmerksamkeitsökonomie, Marketing oder Copyrigth eine prägende Rolle. Genial-dämonische Transzendenzverheißungen werden markttechnisch instrumentalisiert, um die Kunst vor der Trivialität des Warenkonsums zu bewahren. Kunsttheorie beruft sich seit der Renaissance bis zu Schelling, Novalis und Schopenhauer auf den Geniebegriff, um die Kunst in dieser Ambivalenz zu festigen, indem der Künstler als eine außerhalb von Ökonomie und Gesellschaft stehende Instanz idealisiert wird. Die Dekontextualisierung der Kunst aus dem Kultischen bewirkt einen Kult um den Künstler, der in Deutschland, nachdem Christian Wolff und Alexander Baumgarten "ingenium" definiert hatten, mit göttlicher Schöpferkraft und religiöser Inspiration in Verbindung gebracht wurde.

Im Sturm und Drang und in weiterer Folge in der Romantik wurde die Totalität des Genies beschworen: der Künstler emanzipiert sich gemäss der "totalen Poetisierung der Welt" von allen gesellschaftlichen Zwängen und lebt reine Subjektivität, womit er zum Freiheitsideal des Bürgers wird. Friedrich Schlegel formulierte einen "kategorischen Imperativ der Genialität", denn sein Genie zu entdecken sei die Pflicht und das Ziel eines jeden Menschen. Das Genie als "Naturzustand des Menschen" erweist sich bei Schlegel trotz aller Überhöhung ambivalent, indem es gleichzeitig "nur das Übergewicht der einen Seelenkraft über die andere und insofern eine Krankheit, eine Abnormität, eigentlich nur eine Art des Wahnsinns, in der Methode ist".[7] Das Genie ist damit nicht nur schöpferisch, es hat auch eine dunkle, dämonische Seite, die Irrsinn und Chaos verheißt.

Genie und Wahnsinn

Der Antagonismus zwischen Genie und Wahnsinn führt im 19. Jh. zu einer generellen psycho-pathologischen Inklination des Künstlergenies. Der französische Psychiater Jacques-Joseph Moreau de Tours diagnostiziert für das Genie eine Geisteskrankheit und macht die "gleichen organischen Veränderungen" verantwortlich, die "vollständigster Ausdruck (von) Wahnsinn und Idiotie" sind.[8] In seinem Buch "Genio e Folia" rechnet wenige Jahre später Cesare Lombroso das Krankheitsbild des genialen Charakters einer degenerativen Form der Psychose aus der "Familie der Epilepsie" zu. Max Nordau übernahm von Lombroso den Begriff der Degeneration und wandte ihn u.a. auf Baudelaire, Ibsen, Nietzsche, Tolstoi, Wagner oder Zola an. In seiner 1892 erschienen Schrift Entartung erklärte Nordau die Kunst der Moderne als degeneriert und antizipierte das fatale Schlagwort einer entarteten Kunst. In seiner Befürchtung, dass eine menschliche Katastrophe von nie gekanntem Ausmaß die Menschheit erwartet, sollte Nordau Recht behalten, allerdings in einem verkehrten Sinn: nicht die Entartung der Kunst, sondern die Diffamierung der Kunst als entartet, führte zur Katastrophe.

Einzelnachweise

  1. Polke, S., Heubach, F. W.: "Sigmar Polke – Frühe Einflüsse, späte Folgen oder: Wie kamen die Affen in mein Schaffen? Und andere ikono-biographische Fragen" (1976). In: Sigmar Polke, Die drei Lügen in der Malerei, Ostfildern-Ruit, 1997, S. 66.
  2. Platon, "Ion", 532 c, Sämtliche Werke Bd. I, Hamburg 2004, S. 70.
  3. Stefan Zweig, Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. Essays. Hrsg. v. Knut Beck, Frankfurt a. Main 1984, S. 361.
  4. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [KSA]. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. Bd. 13, München 1988, S. 517.
  5. Seneca, Tuskulanische Gespräche I, De tranquillitate animi, 10; nach Aristoteles bei Cicero, XXXIII, 80.
  6. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1983, S. 349.
  7. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium, Tübingen 1813, S. 133.
  8. Jacques-Joseph Moreau de Tours, La Psychologie morbide, 1859

Literatur

Wolfgang Lange, Der kalkulierte Wahnsinn. Innenansichten ästhetischer Moderne, Frankfurt a. Main 1992.

Wilhelm Lange Eichbaum, Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythus und Pathographie des Genies, München 1927.

Weblinks

Jonathan Meese, Der Vulkan muss ausbrechen