Entelechie

Aus Daimon

(Weitergeleitet von Goethe, Johann Wolfgang von)

Goethe verwendet Daimon gleichbedeutend mit Charakter und Entelechie. Der Begriff Entelechie, der auf Aristoteles[1] zurückgeht, unterscheidet sich nach Schmitz bei Goethe dadurch, "daß Goethes Entelechie als treibende und von innen her gestaltende und daher selbst bewegliche Kraft im Stofflichen wirkt, während die aristotelische frei von Trieben, der Materie immer gleichförmig überlegen, selbstgenügsam in sich beschäftigt, nur als ziehende Kraft dessen, was geliebt wird, den Gestaltungs- und Entwicklungsprozeß auslöst und unterhält."[2] Wenn Goethe von einer "geprägten Form, die lebend sich entwickelt" spricht, ist der Daimon eine das Individuum konstituierende Form, worin sich nach Schmitz der Unterschied zwischen modernen und antikem Lebensgefühl widerspiegelt. "Während der Quell der Veränderung für Aristoteles demnach im Mangelhaften liegt, das zur Fülle des Seins drängt, zum Eidos, zur Entelechie oder zum Guten, das nicht selbst in den Prozeß eintritt, entspringt für Goethe und andere moderne Denker das Werden umgekehrt der Fülle, einem Überschuß an Kraft, der zur Offenbarung drängt; so wird erst die Kategorie des Schöpferischen und das in ihr wurzelnde Machtgefühl, das dem Aristoteles noch fremd ist, möglich."[3]

In Urworte. Orphisch widmet Goethe dem Daimon die erste Stanze, die er wie folgt kommentiert: "Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person, das Charakteristische wodurch sich der Einzelne von jedem anderen (...) unterscheidet. Diese Bestimmung schrieb man dem einwirkenden Gestirn zu."[4]


Johann Wolfgang von Goethe

Urworte. Orphisch


Daimon, Dämon


Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.


Tychê, das Zufällige


Die strenge Grenze doch umgeht gefällig

Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;

Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,

Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:

Im Leben ist's bald hin-, bald widerfällig,

Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.

Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,

Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.


Erôs, Liebe


Die bleibt nicht aus! - Er stürzt vom Himmel nieder,

Wohin er sich aus alter Öde schwang,

Er schwebt heran auf luftigem Gefieder

Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,

Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,

Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.

Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,

Doch widmet sich das edelste dem Einen.


Anankê, Nötigung


Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten:

Bedingung und Gesetz; und aller Wille

Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,

Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;

Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,

Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.

So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren

Nur enger dran, als wir am Anfang waren.


Elpis, Hoffnung


Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer

Höchst widerwärt'ge Pforte wird entriegelt,

Sie stehe nur mit alter Felsendauer!

Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:

Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer

Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,

Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;

Ein Flügelschlag - und hinter uns Äonen![5]


Einzelnachweise

  1. Entelechie wurde von Aristoteles in der Metaphysik eingeführt.
  2. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 283.
  3. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 279f.
  4. Goethe Werke, Hamburger Ausgabe, Band 1: Gedichte und Epen I, München 1996, S.403.
  5. Goethe Werke, Hamburger Ausgabe, Band 1: Gedichte und Epen I, München 1996, S.403f.