Homo nocturnus

Aus Daimon

Peter Brandlmayr


H.M. oder das nichtfeststellbare Tier[1]

Ein Tag wie jeder andere. Er saß in seinem Arbeitszimmer; immer die gleichen Fragen und wie üblich konnte er sich nicht entscheiden wo er beginnen sollte. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Behauptung der Mensch sei das nicht festgestellte Tier[2]. Obwohl er mit diesem Satz noch nie zufrieden gewesen war kehrte dieser doch in seinen Überlegungen in regelmäßigen Abständen wieder. Er dachte daran wie groß das Bedürfnis des Menschen ist und war, sich selbst festzustellen, eine Kontur dessen zu erlangen was es bedeutet ein Mensch zu sein. „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, (...) damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenen Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst die du bevorzugst.“[3] Die Macht des freien Willens hält den Menschen außerhalb der Systematik der Tiere und Pflanzen, dachte er. Das ist die eine Seite, die Feststellung der „un-festgestellten“ Seite des Menschen. Auf der Anderen stehen die Versuche, den Menschen in das System der Natur einzuordnen, ihm einen Platz als biologisches Lebewesen, als Tier zu geben. Dieses Bedürfnis entspricht dem Verlangen eine bestimmte Position innerhalb eines Gefüges auszufüllen, eingebettet zu sein. Homo sapiens, der Weise Mensch, der Wissende, dessen Anspruch es ist, sich selbst zu erkennen.[4] Und doch scheint der Mensch auch hier widerspenstig zu sein. „Dem Bedürfnis den Menschen in das System der Natur zu integrieren, steht die Angst gegenüber, jene Position zu verlieren, die es bedeutet selbst in der Welt wahrnehmend tätig zu sein.“ dachte er und sein Blick geriet an die Oberfläche zurück. Dem Bedürfnis sich selbst dem System der Natur oder dem Kosmos entgegenzustellen, steht die Tendenz gegenüber sich selbst als Teil eines Großen und Ganzen zu sehen, als etwas ganz Natürliches. Den Menschen innerhalb und außerhalb des Systems der Natur zu positionieren entspricht der menschlichen Betrachtungsperspektive aus der heraus dieser sich selbst eine Stellung zuteilt und dabei sowohl eine innere und eine äußere Beobachtungsposition einnimmt. Der Versuch sich selbst innerhalb eines Raumes einen Platz zuzuweisen wird immer eine Beschreibung des eigenen Betrachtungsstandpunktes sein und somit eine besondere Position in einem bezüglichen System beschreiben. Zwischen dem Normalen und dem Besonderem. Er freute sich über diesen Gedanken und musste an die Ambivalenz des Begriffs der Art denken. Er erinnerte sich wie er am Anfang seiner großen Arbeit im Wörterbuch unter diesem Begriff Worte wie angeborene Eigentümlichkeit, Natur und Herkunft fand, unter dem Begriff der Spezies stieß er damals auf den Blick, den Anblick; das Aussehen, die äußere Erscheinung, aber auch das Traumbild, die schöne Gestalt; den Anschein, die Vorstellung und das, Ideal.[5] Wogegen der Begriff der Art über die angeborenen Eigentümlichkeiten die Herkunft der Natur festzustellen scheint, bietet der Speziesbegriff eine äußere Erscheinung, einen Blick auf ein Traumbild einer Gestalt. Für ihn hatte sich nie die Frage nach dem Entweder-Oder gestellt für ihn hatte die Theorie immer etwas mit der Empirie zu tun, wobei er wenn er solche Sätze aussprach immer das Wort etwas ganz besonders hervorhob. Für ihn war die Systematik immer künstlich und natürlich zugleich. „Die Schwellen zwischen den Dingen sind Bereiche der Unsicherheit. Definitionen bedeuten den Beginn und das Ende wissenschaftlichen Denkens“, dachte er und er bemerkte plötzlich, dass es dunkel um ihn herum war; Er war mit seinen Gedanken so sehr beschäftigt gewesen, dass er nicht darauf geachtet hatte. Viel seltsamer als die Dunkelheit war jedoch das Gefühl am Boden zu liegen. Es war verwirrend. Wie war er hierher gekommen? Er versuchte seinen Kopf zu heben um das Fenster zu sehen, aber er konnte nichts erkennen. Er war überzeugt gewesen in seinem Arbeitszimmer mit seiner Arbeit beschäftigt zu sein, und doch schienen ihm die Gedanken von vorhin seltsam verschwommen. Er erinnerte sich plötzlich, dass er die Wolken beobachtet hatte als er am Nachmittag in seinem Arbeitszimmer saß, und er wusste, dass er dabei über Nietzsches Satz vom Nicht festgestellten Tier nachgedacht hatte. Er musste dieser Spur folgen um seine Lage und diese Dunkelheit erklären zu können. Irgendetwas hatte ihn verwirrt an diesem Nachmittag. Er hatte keine Ahnung warum er gerade jetzt an Linné denken musste, der schreibt dass seine eigene Stufe zu erkennen die höchste Weisheit bedeutet.[6] Er erinnerte sich aber auch daran, dass Linné unter der Gattung Homo nicht nur den weisen Tagmensch, den Homo diurnus beschreibt, sondern dass dort auch noch ein zweiter Vertreter der Gattung Homo zu finden war, der Homo nocturnus.[7] Der Nachtmensch ist jener, der nicht sapiens ist, ein Waldbewohner der Linné nach des Nachts wütet. Dieser ist aktiv wenn der Tagmensch schläft. Er erinnerte sich daran, dass er manchmal von diesem Nachtmenschen geträumt hatte, von den dunklen und dichten Wäldern, die er durchstreift und den Gefahren, die in diesen Wäldern laueren. Er hatte Haare am Körper und fühlte sich viel kleiner als am Tag, und er hatte das Gefühl auf der Suche zu sein obwohl er nicht wusste, wonach er eigentlich suchen sollte. Es waren seltsame Träume und es war immer besonders schwer aus diesen Wäldern wieder heraus zu gelangen und er hatte beim Aufwachen immer dieses spezielle Gefühl, dass ein Teil von ihm noch nicht zurückgekehrt war, aus dieser seltsamen Welt des Nachtmenschen. Und dieses Gefühl machte ihm Angst. An diesen Tagen fühlte er sich immer etwas verwirrt und verletzlich. „Der Mensch ist verrückt und weise zugleich“ flüsterte er.[8] Morins Worte waren noch nie so irritierend für ihn gewesen. Und er setzte fort: „Er ist ein Geschöpf von starker und unbeständiger Affektivität, das lächelt, lacht und weint, ein ängstliches und verängstigtes Geschöpf, ein genießerisches, trunkenes, ekstatisches, heftiges, zorniges, liebendes (...), eines (...) das vom Imaginären heimgesucht wird, ein Geschöpf das den Tod kennt und nicht daran glauben kann, ein Geschöpf das von Geistern und Göttern besessen ist, eines das sich von Illusionen und Hirngespinsten nährt, ein subjektives Geschöpf, dessen Beziehungen zur objektiven Welt immer ungewiss sind.“[9] Der Mensch ist weise und verrückt, sapiens und demens wiederholte er. Er hatte das Gefühl, die Oberfläche verlassen zu haben. Er fühlte sich unsicher und doch konnte er nicht mehr zurück. Er konnte sich plötzlich erinnern, dass er in seinem Arbeitszimmer gewesen war und dass er beschlossen hatte seine Gedankenkette abzubrechen. Er war von seinem Sessel aufgestanden, hatte sein Buch in die Tasche gepackt, den Mantel genommen und hatte die Schreibtischlampe abgeschaltet, nachdem er die Türe ins Stiegenhaus geöffnet hatte. Er kannte diese Bewegungen nur zu gut und er erinnerte sich daran, dass ihm diese Bewegungen wieder Kraft und Sicherheit gegeben hatten, er hatte die Türe hinter sich abgeschlossen und sich auf den Weg nach Hause gemacht. Draußen war es bereits kühl geworden. Er wusste noch, dass er den Fußabstreifer am Haustor zurecht gerückt hatte und dass er sich die Schuhe daran abgestreifte bevor er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufgestiegen war. Plötzlich hatte er das Gefühl die Schlüssel im Schloss der Wohnungstüre zu hören, obwohl er wusste, dass er auf dem Boden lag. 7 Uhr 20, sagte er leise, als er die Türe geschlossen hatte. Er legte den Mantel ab, stellte die Tasche auf den Boden und ging in die Küche. Er konnte hören wie er sich ein Glas Wasser richtete und er dachte, dass er gestürzt sein musste, als er in sein Zimmer gegangen war, um sein Buch zu suchen. 7 Uhr 27, flüsterte er um sich zu beruhigen und er erhob sich. Er machte das Licht an und dachte, dass alles wieder in Ordnung sein wird wenn er in seinem Sessel sitzt. „Das gewohnte Buch zur gewohnten Zeit“ sagte er leise, während er aus dem Fenster starrte.


Einzelnachweise

  1. Text zitiert aus der gleichnamigen Performance des Künstlers C.I. Brom
  2. Nietzsche zit. n. Gehlen, A. (1961): Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen.- Reinbeck; S 27
  3. Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen.- Stuttgart 1997; S 9
  4. Linne 1956: „nosce te ipsum“; S 20
  5. Kluge 1999 Etymologisches Wörterbuch
  6. Linné 1956, S20
  7. Linné 1956 S24
  8. Edgar Morin: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropoloie.- München 1973; S109
  9. Edgar Morin: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropoloie.- München 1973; S106