Kontingenz
Aus Daimon
(pch) Manchmal genügt es nicht, ein Faktum festzustellen. Man möchte wissen wie es dazu gekommen ist. Leichter gesagt als getan, gibt man bald die Suche auf, lässt die Sache beim Zufall bewenden und sagt, sie sei kontingent. Seltener genügt es nun nicht, von etwas auszusagen, es sei kontingent. Man möchte wissen was diese Aussage selbst aussagt, welches Faktum sie wiederum feststellt: den Begriff der Kontingenz.
Man wird sich in die Geschichte vertiefen und in den Boëthius’schen Übertragungen des Aristoteles ins Lateinische gleich drei Bedeutungen von contingens finden: Kontingent ist (1) was möglich ist, (2) was nicht notwendig ist und (3) was weder notwendig noch unmöglich ist. Weil man annimmt, dass die Tafeln der aristotelischen Syllogistik sich um die Achse des Wirklichen ordnen, wird man erkennen, dass diese drei Begriffe darauf je eigene, unterschiedliche Felder bilden. „Recht einfach,“ wird man vielleicht voreilig meinen. Aber wenn man weiters annimmt, dass das Modalgefälle Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit Begriffe der aristotelischen Metaphysik versammelt, wird man erkennen, dass sich unversehens die eigene Perspektive verschoben hat. Man geht nunmehr von der Frage aus, „Was ist Sein?“ und fragt beispielsweise weiter, „Wie verwirklicht sich das Mögliche?“ Unvermittelt sieht man sich mit vier Arten von Ursachen konfrontiert, von denen man nur eine versteht. Plötzlich ist Kontingenz ein Modus des Seienden: Von allem, das ist, ist kontingent dasjenige, das auch anders sein kann, oder gar nicht. Im eigenen Leben wird sich die Fähigkeit oder Unfähigkeit, es vom Notwendigen zu unterscheiden, im Grad der erreichbaren Glückseligkeit niederschlagen, weil die Beschäftigung mit dem Kontingenten sich auf die Praxis beschränkt, während erst die Beschäftigung mit dem Notwendigen und Ewigen, die Theorie, deren Potential erschöpft.
Um der Verführung zu begegnen, in jeder Möglichkeit ein Mögen wirken zu sehen, in jeder Notwendigkeit ein Müssen (beides δύναμις), all überall ein Selbst werden Wollen (ἐνέργεια), um nicht in diesen Strudel zu tauchen, fasse ich vorläufig zusammen: Glücklich ist man im Kreis der Lieben und das kontingent Seiende ist The Naked Lunch – mal intensiv, verlangend, präsent, mal nichtssagend, beiläufig, stupide.
Das wäre dieser kleine historische Abriss auch schon gewesen, wäre da nicht die spätmittelalterliche Entdeckung des Duns Scotus, die Möglichkeit zu vergeistigen, sie als das zu verstehen, dessen Verwirklichung keinen logischen Widerspruch erzeugt. Er hat den Begriff der Kontingenz in die Gegenwart herüber gerettet, denn er hat ihn mit dem kausalen Denken vereinbar gemacht. Kontingent ist nun, je nachdem ob epistemisch oder ontisch gedeutet, mangelndes Wissen oder grundlose Hypothese, ohne dass man am Wortlaut der Definition etwas hätte ändern müssen; Es ist nach wie vor das, das zugleich nicht unmöglich und auch nicht notwendig ist. Wie heute aber die Kontingenz von der Zufälligkeit abgrenzen, der sie seither gefährlich nahe gerückt ist? Zwar ist alles Zufällige kontingent, aber längst nicht alles Kontingente zufällig. Dass der Notwendigkeit, die unter dem Deckmantel des Determinismus, den Sprung in die Neuzeit mühelos schaffte, dieser Tage ein ähnliches Schicksal widerfährt, mag die Frage müßig machen. Man braucht gar nicht an Quantenfluktuationen im Vakuum denken, in allen Naturwissenschaften, den Hochburgen des Determinismus, wird beinahe ausschließlich von Wahrscheinlichkeiten gesprochen und geht ohne Statistik so gut wie nichts mehr.
Die Modalitäten Notwendigkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit und Kontingenz bleiben den Erzählungen vorbehalten, in die wir unsere Leben betten.
Weblinks
Peter Chiochetti Physik des Glücks, 2011