Masse

Aus Daimon

Revue-Girls der 1920er Jahre
Eröffnungsfeier der Olympiade Berlin, 1936
Dämon der Masse: Menschen als Bildpunkte in einem nordkoreanischen Stadium

Die Massen glauben an eine Art poetischer Gerechtigkeit. Nachdem und weil sie viel erlitten haben, glauben sie, vor Gott einen Anspruch auf Gnade und Belohnung erworben zu haben.

Walter Ehrenstein, Dämon Masse, Frankfurt a. Main 1952, S. 27


Der Begriff "Masse" wurde etwa um 1890 durch Gabriel Tarde, Gustave Le Bon[1] und Scipio Sighele in die Psychologie und Soziologie eingeführt.

Eine Menschenmenge kann nach Cicero als „natürliche Geselligkeit des Menschen“ und Ursprung der Gesellschaft oder wie bei Shakespeare als „monster of the multitude“ beschrieben werden. In der Masse findet der Mensch als soziales Wesen zu sich selbst oder seine Individualität löst sich in einem monströsen Leviathan auf. Søren Kierkegaard erklärt die Entstehung des Phänomens Masse durch die innere Lähmung des Einzelnen, die er mit Dämonie in Verbindung setzt.

Im seinem 1927 veröffentlichten Essay Das Ornament der Masse beschreibt Siegfried Kracauer die Instrumentalisierung des menschlichen Körpers in Revuetheatern, Stadien und Filmen seiner Zeit: "Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich auf australischem und indischen Boden, von Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. Das kleinste Örtchen, in das sie noch gar nicht gedrungen sind, wird durch die Filmwochenschau über sie unterrichtet. Ein Blick auf die Leinwand belehrt, dass die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. Der Regelmäßigkeit ihrer Muster jubelt die durch die Tribünen gegliederte Menge zu."[2]

Im Faschismus und Kommunismus wird der individuelle Körper bei Aufmärschen und Machtrepräsentationen zu einem Pixel transformiert. Die Masse wird zum Bild des Gesellschaftskörpers, dem sich sich das Individuum punktgenau unterzuordnen hat. Wenn Kracauer u.a. in "Das Ornament der Masse" schreibt, dass die Beine der Tillergirls den Händen in der Fabrik entsprechen, verweist er einerseits auf das damals aufkommende Taylorsystem und antizipiert andererseits eine Organisation von Massen in totalitären Systemen.

Als Elias Canetti im Wien der 1930er Jahre ein Zimmer nahe dem Rapid-Stadion bezog, drangen die Schreie der Fußballfans durch das Fenster und inspirierten ihn zu seinem späteren Hauptwerk „Masse und Macht“. Anschwellende Menschenansammlungen, wie jene die ins Fußballstadion drängen, haben für Canetti eine inflationäre Wirkung: „Eine Inflation ist ein Massen-Vorgang im eigentlichsten und engsten Sinne des Wortes. (...) In diesem Vorgang findet sich jene Eigenschaft der psychologischen Masse wieder, die ich als besonders wichtig und auffallend bezeichnet habe: die Lust am rapiden und unbegrenzten Wachstum.“[3] Vergleichbar der Inflation des Geldes kommt es zu einer Abwertung der Person. Die Masse will immer weiter und unbegrenzt wachsen und sie liebt die Dichte, in der Menschen ihre Berührungsängste ablegen und sich ein Gefühl der Gleichheit einstellt.


Einzelnachweise

  1. Gustave Le Bon, La psychologie des foules, Paris 1895. Hitlers Propagandaminister Josef Goebbels baute seine Demagogie auf Erkenntnisse von Le Bon auf.
  2. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, S. 50 - 63.
  3. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main 2003, S. 214 ff.


Literatur

Walter Ehrenstein, Dämon Masse, Frankfurt am Main 1952.