Autopoiesis

Aus Daimon

Der Dämon in der Materie

Ouroboros, Parisinus graecus 2327, fol. 279 (Kopie, 1478)

Autopoiesis (auch Autopoiese, altgriech. αὐτός, "selbst", und ποιέω, "schaffen") beschreibt Prozesse der Selbsterschaffung, Selbsterhaltung und Selbstreproduktion von Systemen. Als charakteristisches Organisationsmerkmal lebender Systeme wurde der Begriff vom chilenischen Neurobiologen Humberto R. Maturana geprägt. Autopoietische Systeme (vom Einzeller bis zum Menschen) sind rekursiv organisiert, d.h. das Produkt des funktionalen Zusammenwirkens ihrer Bestandteile ist genau jene Organisation, die die Bestandteile hervorbringt. Durch diese besondere Form der Organisation, bei der es keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis gibt, lassen sich lebende von nicht-lebenden Systemen unterscheiden: "So spezifizieren die autopoietischen Einheiten die biologische Phänomenologie als die ihnen eigene Phänomenologie mit Charakteristika, die von denen der physikalischen Phänomenologie verschieden sind. Dies ist nicht etwa so, weil die die autopoietischen Einheiten irgendeinem Aspekt der physikalischen Phänomenologie widersprechen; da sie molekulare Komponenten haben, müssen sie auch die gesamte physikalische Gesetzlichkeit erfüllen. Vielmehr hängen die Phänomene, die autopoietische Einheiten in ihrem Operieren erzeugen, von der Organisation der Einheit ab und von der Art, wie diese verwirklicht wird, und nicht von den physikalischen Eigenschaften ihrer Bestandteile, welche nur den Raum ihrer Existenz bestimmen."[1] Ein autopoietischer Dämon wäre demnach das Programm eines Systems, das Zu- und Verteilungen auf sich selbst anwendet, um sich dadurch autonom hervorzubringen und zu reproduzieren.

Künstliche Autopoiesis

FANUC LTD. baut seit 1972 Industrieroboter. Monatlich verlassen 2.500 Roboter die automatisierten Fabrikshallen, in denen Roboter Roboter montieren.

Eine frühe Science-Fiction-Erzählung, die von autopoietischen Maschinenwelten berichtet, ist der 1872 erschienene Roman "Erewhon" von Samuel Butler (1835-1902). Butler war von Darwins Evolutionstheorie beeinflusst und übertrug diese von der Natur auf die Maschinenkultur seiner Zeit. Im Kapitel "Das Buch von den Maschinen" werden Werkzeuge und Maschinen über ausgelagerte Organe oder Prothesen hinaus als eigenständige Entitäten beschrieben. Maschinen werden erstmals als lebende Spezies vorgestellt, die den Menschen die Herrschaft über die Erde streitig machen. Butler stellt die Frage, die bis heute Ausgang von Science-Fiction-Filmen wie Matrix ist: "Könnte der Mensch nicht selber eine Art Schmarotzer auf den Maschinen werden? Eine liebevoll maschinenkitzelnde Blattlaus?"[2] Wenn eine Lokomotive Kohle und Erz ins Stahlwerk bringt, damit mehr Lokomotiven und Schienen produziert werden und damit wiederum mehr Kohle und Erz ins Stahlwerk transportiert werden usf., dann hat die Maschine ein autopoietisches Vorstadium erreicht. Zwar besitzen die Maschinen noch kein Bewusstsein, doch dies bietet "keine Gewähr dafür, daß sie ein solches letzten Endes nicht doch entwickeln."[3] Die allopoietischen Maschinen des 19. Jhs. sind einem Selbst noch fern, doch die Selbststeuerungskräfte vergrößern sukzessive die Autonomie gegenüber den Menschen: "Man untersuche nur, was alles an selbstregulierenden Vorrichtungen jetzt in die Dampfmaschine eingebaut wird, wie sie sich selber mit Öl versieht, wie sie ihre Bedürfnisse demjenigen, der sie betreut, selbsttätig anzeigt, wie sie mittels Fliehkraftreglers ihren eigenen Kraftaufwand abstuft."[4] Die Maschine gewinnt an Autonomie durch Komplexität, und Steuerungen wie der Fliehkraftregler sind einfache Dämonen, die am Beginn der maschinischen Autoevolution stehen. Bemerkenswert ist Butlers Vorstellung eines Maschinenverbundes. Er denkt die Maschine nicht wie in seiner Zeit üblich als singuläres Werkzeug, sondern als ein interagierendes Maschinennetzwerk: "Wir machen uns ein falsches Bild, wenn wir eine komplizierte Maschine als ein Einzelwesen betrachten; in Wirklichkeit ist sie eher wie eine Stadt oder Gesellschaft, deren Glieder alle artgemäß erzeugt wurden."[5] Der Roman wurde als Persiflage auf den Darwinismus und das viktorianische Zeitalter verharmlost, wogegen sich Butler stets verwehrte. Erst mit Entstehung der Kybernetik, Compterwissenschaften, AI- und AL-Forschung wurden die Probleme bei der Grenzziehung zwischen lebenden und maschinischen Systemen bewusst. Butler wurde zum Vordenker der Autoevolution und Autopoiesis der Maschinen und wurde als solcher von Alan Turing oder Marvin Minsky begeistert rezipiert.

Computer-Autopoiesis

Thinking Machines Corporation, FROSTBURG (CM-5), 1991. Der Supercomputer Connection Machine 5 war der erste Computer mit 256 Parallelprozessoren und wurde von der NASA zwischen 1991 und 1997 eingesetzt.

Die Science-Fiction, dass Menschen Maschinen gegenüberstehen, die von ihnen nicht entworfen und gebaut wurden, konkretisierte John von Neumann (1903-1957). Sein Konzept ging von der Konstruktion einer Maschine aus, die neben dem Arbeit verrichtenden Teil und einem mechanischen Gehirn auch eine mathematisch-logische Beschreibung ihrer Selbst beinhaltet. Das mechanische Gehirn übersetzt den Algorithmus in Instruktionen, die wie bei einer klassischen Maschine ausgeführt werden. Dadurch baut bzw. reproduziert siche die Maschine selbst; ein Roboter baut einen Roboter. Um zu unvorhergesenen Variationen der Maschine zu gelangen, generiert der Algorithmus Zufallselemente. Es entsteht eine neue Maschinengeneration, die nicht von Menschen, sondern von Maschinen "gezeugt" wurde. Auch wenn die Produktion von Computern noch nicht autopoietisch ist, designen, testen und programmieren Computer Maschinen. Daniel Hillis, der Entwickler der Connection Machine und Gründer der Thinking Machines Corporation spekulierte bereits in den 1980er Jahren über die einsetzende Autoevolution seiner Maschine: "Wir benutzen die Maschine gegenwärtig gerade, um ihren Nachfolger zu entwerfen. (...) Das nette an diesem Chip ist, daß er selbst die Methode darstellt, die ihn produziert hat. (...) Ich glaube, daß die Maschine sich einmal selbst erhalten wird. Ich glaube, man wird diese Maschinen eines Tages ihre Nachfolger entwickeln lassen. Und nach einer Weile werden wir nicht mehr verstehen, wie sie funktionieren."[6]

Nano-Dämonen

Inspiriert von Science-Fiction-Phantasien wurde in den 1980er Jahren von Eric Drexler ein neues Paradigma technischer Machbarkeit in Aussicht gestellt. Mit Engines of Creation visionierte Drexler nanoskalige Maschinen zur Erzeugung oder Umwandlung von Dingen auf atomarer Ebene.[7] Für diese Assembler genannten molekularen Roboter, die beliebig andere molekulare Maschinen einschließlich Replikate ihrer selbst zu erzeugen versprachen, führte er den Begriff Nanotechnologie ein. Damit war ein Szenario helfender künstlicher Dämonen geschaffen, die ein Leben ohne Arbeit, Krankheit und Tod erhoffen ließen. Die sich selbst erzeugenden, reparierenden und reproduzierenden Molekular-Dämonen sollten nach Drexler alle erdenklichen Probleme in menschlichen Körpern, Umwelten, der Atmosphäre oder industriellen Produktionsprozessen in den Begriff bekommen.

Nanotechnologie überschreitet bei Drexler die Grenze zur Biotechnologie, indem künstliche Lebewesen oder zumindest funktionale Teile derselben aus einfachen biochemischen Elementen konstruiert und angewandt werden. Die Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Gegenständen sowie zwischen künstlichen und natürlichen Lebewesen löst sich zugunsten einer molekularen „Bauklötzchen-Metaphysik“[8]auf.

Doch im Jenseits der Nanotechnologie wartet nicht nur das Paradies, sondern auch eine Apokalypse, die ausgelöst durch eine hypertrophierte Autopoiesis molekularer Maschinensysteme zu einem „grey-goo“-Szenario führen kann, bei dem nach Drexler außer Kontrolle geratene Assembler eine Kettenreaktion mit vernichtender Wirkung auslösen.[9]

Einzelnachweise

  1. Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern/München 1987, S. 60.
  2. Samuel Butler, Erewhon oder Jenseits der Berge, Frankfurt a. Main 1994, S. 279.
  3. Samuel Butler, Erewhon oder Jenseits der Berge, Frankfurt a. Main 1994, S. 267.
  4. Samuel Butler, Erewhon oder Jenseits der Berge, Frankfurt a. Main 1994, S. 301.
  5. Samuel Butler, Erewhon oder Jenseits der Berge, Frankfurt a. Main 1994, S. 289.
  6. Daniel Hillis, in: Stewart Brand, Medialab, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 231f.
  7. Eric Drexler, Engines of Creation
  8. Vgl. Joachim Schummer, Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt a. Main, S. 90.
  9. Michael Crichton machte Eric Drexlers „grey-goo“-Szenario zur Grundlage seines 2002 erschienen Horror-Romans Prey.


Weblinks

Humberto R. Maturana, Biology of Cognition

Samuel Butler, Erewhon

John von Neumann: First Draft of a Report on the EDVAC, 1945, pdf

Daniel Hillis, The Connection Machine

Otávio Bueno, Von Neumann, Self-Reproduction and the Constitution of Nanophenomena, pdf