Dämonen der Kunst

Aus Daimon

Hartmut Böhme und Thomas Feuerstein im Gespräch[1]




Hartmut Böhme: Als wir uns vor einem Jahr in der Ausstellung POEM[2] begegneten, bei der eine Wundermaschine und ein Schrank mit Flaschen ausgestellt waren, fragte ich mich, ist das Alchemie, Technik, Wissenschaft oder Bioart? Ein bildender Künstler artikuliert sich in Bildern, Objekten, Installationen und Materie. Aber das Spezielle an Deinen Arbeiten ist das Dialogische, sind Geschichten und Erzählungen. Deine Werke besitzen eine narrative Struktur: Sie wollen nicht finalisierte oder statuarisch determinierte Produkte sein, sie befinden sich immer im Fluss auf einer Prozessebene. Darin zeigt sich ein Verhältnis zur Zeit, aber auch ein besonderes Verhältnis zur Materialität. Die Materie bekommt in Form von chemischen Reaktionen und biologischen Prozessen eine Mitsprache und wird Teil der Autorenschaft. Aus dieser Dialogizität resultieren viele Anschlüsse an natur- und kulturwissenschaftliche Diskurse sowie eine spezifische Ästhetik. Es tritt aber auch ein Moment des Spiels und der Ironie hinzu, woraus eine zeitgenössische Poetik entsteht. Spezifisch für Dein Werk ist ferner eine literarische Ebene, auf der die bildkünstlerischen Projekte von Texten und Hörspielen begleitet werden. In Deinem Buch OUTCAST OF THE UNIVERSE[3] findet sich unter dem Titel „Plus ultra. Das Herkulesprojekt“ ein Reise- und Science-Fiction-Roman, der voller Utopien und melancholischer Dystopien steckt. Der Titel ist paradigmatisch für unsere gesamte Kultur, denn mit dem plus ultra beginnt der Aufbruch in die ozeanischen Dimensionen der Geschichte. Während in der Antike die Säulen des Herkules das Ende der Welt markierten und eine Warnung vor Neugierde und Erkenntnisdrang symbolisierten, wird in der Neuzeit schon bei Dante im „Inferno“ und dann bei Francis Bacon das Verbot non plus ultra ‒ nicht weiter, nicht darüber hinaus ‒ zum Gebot plus ultra ‒ immer weiter, darüber hinaus. Grenzüberschreitungen werden damit, wie Ernst Bloch immer wieder betont hat, zum Gestus philosophischer Intuition, und das ist auch ein Prinzip der Kunst. Grenzüberschreitungen und Experimente kennzeichnen Deine Arbeit. Permanent werden Gattungsgrenzen zwischen Literatur, Laboratorium und Kunst überschritten. Zeichnung, Skulptur, Malerei, Installation, Computer- und Biokunst ermöglichen in ihrer Kombination eine vielfältige Ästhetik. Von Ende der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre standen Auseinandersetzungen mit der medialen und technischen Konstitution unserer spätkapitalistischen Gesellschaft im Vordergrund. Während diese frühe Phase von Informatik, Medien und Netzwerken bestimmt war, kommt es ab Mitte der 1990er Jahre vermehrt zu einer Beschäftigung mit Biotechnologien, das heißt Organisationsprozesse lebendiger Materie und Phänomene chemischer und biologischer Prozesse werden interessant. Fragen der Anthropologie und Philosophie werden bis auf die Ebene der Moleküle heruntergedacht, und es wird evident, dass der wichtigste Diskurs und das stärkste Phantasma, mit dem wir im Augenblick konfrontiert sind, nicht in der Literatur oder in der Kunst kreiert wird, sondern in den gewaltigen Perspektiven und Veränderungen, die von den Naturwissenschaften, insbesondere von ihren technischen Applikationen ausgehen. Sich damit auseinanderzusetzen und ein Verhältnis als Künstler, Gestalter und kritisch Reflektierender zu finden, ist die wesentliche Stoßrichtung der zweiten Phase, die bis heute anhält. Das eröffnet der Kunst neue Möglichkeiten, verlangt aber auch nach neuen Methoden, Materialitäten und Prozesshaftigkeiten.


Thomas Feuerstein: Das Prozesshafte bildet seit den frühen digitalen Arbeiten einen wichtigen Aspekt. Echtzeitdaten aus Börsen- und Nachrichtennetzen erlaubten in Verbindung mit Algorithmen Anfang der 1990er Jahre einen fließenden Werkcharakter, wodurch die Arbeiten nicht länger statisch in einem Zustand verharrten. Jede Arbeit hatte ein Eigenleben und aus dieser Dynamik heraus generierten sich nahezu endlos Bilder und Töne. In der zweiten Phase entstehen Arbeiten in größeren Werkblöcken und knüpfen untereinander so etwas wie semantische Netze. Sie funktionieren wie kommunizierende Gefäße, sprechen miteinander und bedingen sich gegenseitig. Eine Skulptur produziert etwa das Malmaterial für ein Bild oder eine Grafik wird zur Nahrung einer Installation, indem sie Energie für weitere Prozesse freisetzt. Dadurch schaffen die Arbeiten narrative und performative Strukturen, die Materialien und Moleküle, lebende Organismen, Methoden und Praktiken aus Biologie ebenso wie Texte, Recherchen und Gespräche einbeziehen. Auch unser Gespräch ist Teil eines solchen Narrativs, in dem der Begriff Dämon einen zentralen Knoten bildet. Der Dämon interessiert mich, da er unterschiedliche Diskursfäden aufnimmt und überraschende Bedeutungswandlungen bereithält, die ihn gerade in der Gegenwart aktualisieren. Wir denken zunächst an religiöse Traditionen, wo er für das Böse und Teuflische steht. Aber es gibt auch die ältere griechische Überlieferung, wo er vereinfacht für Ordnung und Chaos sorgt und den Menschen eudaimon ‒ glücklich ‒ oder kakodaimon ‒ unglücklich ‒ macht. Für alles Prozesshafte in psychischen und physischen Welten waren daimones zuständig, etwa für die Fermentation von Zucker zu Alkohol oder von Milch zu Käse. Der Dämon agiert als Medium, Katalysator oder Enzym und bewirkt Übersetzungen und Transmutationen. Er ist an sich weder schlecht noch gut und kann sowohl Hardware als auch Software sein. Er kann in Gedanken und Ideologien oder in Materie und Artefakten stecken. Vor allem die vielfältigen Bedeutungen, historischen Wendungen und die Anwendung auf technische Prozesse prädestinieren den Begriff für künstlerische Narrationen, die kontingent und polyvalent die eigene Kultur verstehen und erzählen wollen.


HB: Ich würde gerne an den Begriff des Dämonischen anknüpfen. Man könnte behaupten, dass es eine abstrakte Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Bedeutungsvarianten gibt. Denken wir an das Verhältnis zu unserem bewussten Selbst: Wenn wir als handelnde Subjekte agieren, wissen wir nie, ob wir Herr unseres Tuns sind oder ob etwas anderes eine Macht auf uns ausübt. Wir erfahren oft eine Unselbständigkeit gegenüber Prozessen, die wir entweder nicht durchschauen, da sie uns geheimnisvoll, intransparent und dunkel erscheinen, oder wir müssen erkennen, keinen Einfluss darauf zu haben. Das Dämonische hat eine treibende, produzierende, kreative, aber auch eine destruktive Kraft, welche die Souveränitätssuggestion des Subjekts erschüttert.


TF: Wir erleiden einen Selbstverlust, wenn wir uns von etwas besessen oder von fremden Mächten kontrolliert erfahren. Engel, Teufel, Djinn oder Rakshasas verkörpern alte Dämonenvorstellungen, die über Neuroökonomie, Marketing, NLP, digitale Überwachung, genetische Kontrolle oder Biopolitik eine neue soziale und konsumistische Dimension erlangen. Im Dämon überlagern sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vermengen sich Systeme und Kategorien, Aufklärung und Mythos, Technologie und Aberglaube, Autonomie und Fremdbestimmung. In diesem Sinn erweist sich Dämon als schmutziger Begriff, weil er mehrdeutig ist und ein magisches Weltbild mit einem rationalen mischt. Seit Ende des 18. Jahrhunderts erscheinen Dämonen zunehmend in einem säkularen Kontext: Man spricht vom Laplace’schen und Maxwell’schen Dämon, womit Mathematiker und Physiker anstatt Exorzisten ins Spiel kommen. Schließlich gelangen Dämonen über die KI-Forschung und Systementwicklung am MIT in die Computerwissenschaften, sodass wir heute bei der Unzustellbarkeit einer E-Mail Antwort von einem Mailer Daemon bekommen. Und spätestens dann wird uns bewusst, wir sind nicht allein, die Dämonen schlummern überall als Routinen im Hintergrund der Systeme. Sie warten auf Servern, reisen als Bots von Suchmaschinen im Internet, navigieren uns im Auto ans Ziel oder verteilen als Antiblockiersystem die Bremskraft auf vier Räder. Das heißt, Dämonen unterstützen uns, sie überwachen uns aber auch permanent. Dies kann man mythisch wie im Exorzismus mit circumsessio und obsessio umschreiben oder nüchtern auf eine mögliche etymologische Bedeutung von Daimon rückbinden, die im Sinne von daiesthai den Dämon als Zu- und Verteiler interpretierbar macht. Und Zu- und Verteilungsfragen sind die entscheidenden Fragen für uns alle, für die Politik, Ökonomie, Kybernetik usw., aber auch für den Künstler. Wenn ich vor einer weißen Leinwand stehe, habe ich es mit basalen Fragen der Zuteilung von Farbe auf Leinwand zu tun. Es mischen sich unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen und der Begriff Dämon wird zu einem Knoten, der Fäden aus der Kultur-, Mythen- und Wissenschaftsgeschichte in der Gegenwart verdichtet, um sie kontingent in die Zukunft fortzuspinnen. Aus diesem Grund entstehen kleine literarische Geschichten zu Projekten, die mir die Möglichkeit einräumen, zu spekulieren und das Faktische fiktiv weiterzudenken. Ähnlich verhält es sich bei Installationen und prozessualen Skulpturen, die eine Verwandtschaft zu pataphysischen Maschinen aufweisen. Technologien bringen zwar die Prozesse zum Laufen, ermöglichen Wachstum, Veränderung und das Arbeiten mit einem neuen Materialbegriff, aber das wäre noch nicht Kunst und nicht die Essenz, die mich interessiert. Gerade die Überblendung technisch-wissenschaftlicher Methoden und Abläufe mit künstlerischen Narrationen ergibt für mich eine Spannung, die zu neuen Ergebnissen führt. Die technische Poiesis bildet die Voraussetzung für die künstlerische Poetik, ist aber nicht mit ihr zu verwechseln.


HB: Das führt mich zur Frage nach dem Status des Künstlers. Mein Eindruck insbesondere in Bezug auf biologische Maschinen ist doppeldeutig: Im Titel MANNA-MASCHINE steckt ein biblischer Universaltreibstoff, den Gott als Geschenk vom Himmel regnen ließ. Dieser Stoff ist das Leben selbst, eine Gabe vom Dämon, der Gott ist. In den Manna-Maschinen wachsen Schwebealgen, die geerntet und zwei verschiedenen Verwendungen zugeführt werden. Auf der einen Seite kann man daraus Pigmente gewinnen und man hat den Stoff der Kunst beziehungsweise Malerei. Auf der anderen Seite kann man daraus Nahrungsmittel machen, wovon der Künstler lebt. Und darin zeigt sich die Idee der Junggesellenmaschine, die es dem Künstler ermöglicht, sich autark und souverän von allen Abhängigkeiten der Natur zu befreien. Ein Maschine, die zugleich die Malmittel und die Lebensmittel zur Verfügung stellt, verkörpert die maximale Idee des Genies, das autark und autonom ist. Andererseits liegt aber gerade darin die totale Subversion dieser Souveränität, da die Prozesse unter Mitwirkung nichthumaner Entitäten ablaufen, wodurch die Autorenschaft unterlaufen wird. Mit Bruno Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte man sagen, dass sich im Mitwirken und in der Mitsprache der Objekte und Prozesse ein Kollektiv aus Menschen und Dingen, natürlichen und künstlichen Abläufen bildet, worin sich wiederum das Dämonische zeigt. Mich würde interessieren, wie weit die MANNA-MASCHINE diese Ambivalenz im abendländischen Selbstverständnis des Subjektes, aber auch in der Souveränität der Handlungspotenz, die ihre höchste Formulierung im Begriff des Künstlers gefunden hat, zum Ausdruck bringt. Denn der Künstler ist das Paradigma der Souveränität, nicht der König. Die MANNA-MASCHINE evoziert und dekonstruiert dies gleichzeitig. Wie definiert sich der Künstler in diesem Zusammenhang und welches Verhältnis nimmt seine Kunst zu den technischen Environments und biologischen Prozessen ein?


TF: Diese Ambivalenz ist gut beschrieben. Sie erlaubt mir zwischen den Disziplinen und kulturellen Codes in einem ungeklärten, schmutzigen Dazwischen ‒ buchstäblich im inter-esse ‒ zu agieren. Die Funktion des Künstlers verschiebt sich vom traditionellen Bildproduzenten zu einem Künstler zweiter Ordnung, der Biotope schafft, in denen Arbeiten autonom heranwachsen. Aber auch in den Werken selbst überlagern sich Funktionen und Diskurse. In der MANNA-MASCHINE findet sich die beschriebene Doppelstruktur: Sie erzeugt Pigment, das als Malmaterial verwendet wird ‒ das wäre die symbolische Verwendung ‒ und es entsteht ein Nahrungsmittel, mit dem ich z. B. Taufliegen füttere ‒ das wäre die reale Funktion. Die geernteten Algen ‒ Chlorella vulgaris ‒ und gezüchteten Fliegen ‒ Drosophila melanogaster ‒ sind Modellorganismen der Biologie und erzählen ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Der Titel MANNA-MASCHINE zitiert einen biblischen Bioreaktor, verweist aber nicht ohne Ironie auf zeitgenössische Szenarien einer Paradiesmaschine. Alle möglichen Hoffnungen werden seit einigen Jahren in Algen projiziert. Man will Biosprit produzieren, die Nahrungsknappheit beseitigen, den Klimawandel durch Kohlendioxidbindung stoppen. Wie im Begriff Dämon laufen in einer kleinen Pflanzenzelle unterschiedliche Fäden zusammen; es versammeln sich Krisen und Sehnsüchte, Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Ökonomie und Politik, Ressourcen- und Klimafragen. All dies macht die Zelle zu einem narrativen Knoten, der u.a. auch den Subjekt- und Künstlerstatus sowie den Autonomiebegriff einbezieht.


HB: Metamorphosen und Transformationen spielen bildnerisch, aber auch politisch eine wichtige Rolle in Deinen Arbeiten. Darin spiegeln sich die Krisen unserer Zeit wie Ökologie, Ernährung und Klima. Wenn mit Algen Drosophila-Fliegen gezüchtet werden und diese wiederum als Pixel Portraits und Bilder formieren, steht ein langer Prozess voller materieller und symbolischer Transformationen dahinter. In diesem Prozess sehe ich einen ästhetischen und poetischen Akt, der letztlich tatsächlich Porträts aus Fliegen von Darwin, Marx, Habermas, Luhmann oder Thomas Hobbes und dem Titelbild aus dem „Leviathan“ hervorbringt. Nicht zufällig zeigt das erste dieser Fliegenbilder den Leviathan, den Inbegriff oder die Allegorie des totalen, machtvollen Staates. In dieser Genealogie von Fliegenbildern zeigt sich, wie weit Du eigentlich in Deinen Installationen immer eine über die Kunst hinausgehende politische Dimension mitdenkst. Die Tradition der politischen Theorie trifft hier auf eine bildnerische Materialität und stellt die Frage nach der politischen Ökologie und dem Government unserer Erde. Wie siehst Du das Verhältnis von Kunst und Politik in Deinen Werken?


TF: Die Arbeiten sind nicht tagespolitisch, stellen aber die alte Frage nach der conditio humana: Was sind die aktuellen Bedingungen des Menschseins in unserer Gegenwart, wovon lassen sich die vielen unterschiedlichen und zum Teil divergenten Entwicklungen ableiten und, vor allem, wohin führen sie uns, welche vermeintlichen Notwendigkeiten und, wichtiger, welche Möglichkeiten, Kontingenzen und Freiheitsgrade lassen sich denken? Genau hier kommt der Daimon als Zu- und Verteiler, als Stifter von Ordnung und Unordnung wieder ins Spiel. Demokratie und Politik haben auch damit zu tun, wieviel Unordnung wir als Gesellschaft wollen und wieviel Ordnung wir als Gesellschaft brauchen. Da in Demokratie beziehungsweise demos ‒ griech. Volk ‒ etymologisch Daimon steckt, ist Politik immer eine dämonische Frage. Alles, was regulativ auf eine Gesellschaft einwirkt und als Gesetzgebung erlassen wird oder in der Verfassung festgeschrieben ist, sind dämonische Ordnungsmechanismen. Gerade in der heutigen Zeit stellt sich die Frage, wieviel Ordnung wollen wir überhaupt, im Sinne von Überwachung, Kontrolle und vermeintlicher Sicherheit.


HB: Den Gegensatz zwischen Ordnung und Chaos im Hinblick auf das Dämonische kann man auch mit dem Thema der Utopien verbinden. Utopisten von Platon über Bacon bis zur Moderne sind immer Ordnungsdenker, die eine Art Eudaimonie, eine Glückseligkeit der Gesellschaft herstellen wollen, die letztlich in einer terroristischen Ordnung mündet und eine Form der Erstarrung und schließlich des Todes darstellt. Die aus Drosophila-Fliegen zusammengesetzte Portraitreihe beginnt mit dem Leviathan und Thomas Hobbes und endet mit einem Totenkopf aus Speckkäfern, wie sie Tierpräparatoren verwenden, um Kadaver zu skelettieren. Die Bilderserie versammelt Ordnungsdenker und schließt mit Entropie und Verwesung ab. Am Ende dieser Ordnung steht das Emblem der facies hippocratica, wie Benjamin sagen würde, also jene Allegorie der Geschichte, in der sie in die Erstarrung des Todes tritt. Der Katalog, in dem die Arbeiten vorkommen, ist mit OUTCAST OF THE UNIVERSE betitelt, was interessant ist, denn der Outcast ist der Paria, der Außenseiter und Ausgestoßene, der auch Abfall und Müll ist. Steckt darin eine subversive Sympathie für die Destabilisierung der Ordnung und eine Hinwendung zum Schmutz des Ausgestoßenen?


TF: Ordnungen sind Narrative, die für Orientierung sorgen. Feste Ordnungen bringen Dogmatiken beziehungsweise harte, unveränderbare Geschichten hervor, die uns moralisch, religiös und politisch stabilisieren sollen. Deshalb limitiert zu viel Ordnung und Moral die Freiheit des Denkens. Für mich liegt eine Funktion des Künstlers darin, vermeintliche Zwänge, Notwendigkeiten, Werte und gesellschaftliche Leitbilder, die Ordnungen konstruieren, zu hinterfragen, indem häretisch andere Möglichkeiten geöffnet werden. Ordnungen sind Routinen des Lebens, die uns obsessiv in Beschlag nehmen. Eine dämonische Besessenheit in Form einer Parallelisierung erzählt die Geschichte „Wakefield“ von Nathaniel Hawthorne, die mit den Worten „Outcast of the Universe“ endet. Wakefield lebt im London des 19. Jahrhunderts und verabschiedet sich an einem Oktobertag von seiner Frau, um für wenige Tage zu verreisen. In Wahrheit bezieht er unweit seines eigenen Hauses ein kleines Zimmer, wo er zwanzig Jahre bleibt. Was als kurzes Selbstexperiment beginnt, endet als jahrelange Omniabsenz. Für seine Frau und Freunde ist er verschwunden und er wird als tot erklärt. Er beobachtet seine Mitmenschen, bleibt aber selbst unsichtbar. Jeden Tag fragt er sich, was treibt mich an, hier zu bleiben, ich habe ein glückliches Leben, warum vegetiere ich in diesem Paralleluniversum. Hawthorne beschreibt ein Stealth-Phänomen im Sinne der Tarnkappenbomber, aber Wakefield verschwindet nicht nur für seine Umwelt, er gerät in eine dämonische Schleife des totalen Selbstverlusts. Die Erzählung endet damit, dass er so unvermittelt, wie er sein Haus verlassen hat, wieder zu seiner Frau zurückkehrt und sein Leben fortsetzt. Diese eigenartige, irrationale Geschichte ist eine Allegorie für das Leben vieler Menschen: Man geht an die Uni und dann in Pension; was dazwischen passiert, weiß man gar nicht so genau. Egal ob man dissidiert oder sich integriert, man ist immer ein Outcast of the Universe. Der Outcast ist zwar ein singulärer Typ, aber wenn der Individualismus zum Konformismus unserer Zeit geworden ist, sind wir alle bewusst oder unbewusst Outcasts.


HB: Dann ist derjenige, der kurz mal austritt und für zwanzig Jahre untertaucht, der unbeobachtete Beobachter. Das ist, wenn man Deine Werke anschaut, auch die Strategie Deiner künstlerischen Interventionen. Sie sind ja der Beobachter vieler gesellschaftlicher, ästhetischer, politischer, natürlicher Prozesse, aber Du setzt Dich selbst nicht der Beobachtung aus.


TF: Dem Genie- und Subjektbegriff misstraue ich, da er heute vor allem einer marktinduzierten Mythenbildung dient. Für mich ist interessanter, Dinge im Hintergrund zu entwerfen, die sich dann selbst zur Ausführung bringen. Die eigentliche Arbeit des Künstlers artikuliert sich nicht an der Oberfläche, das sind lediglich Symptome. Man baut vielmehr ein Setting und dann passiert innerhalb dieser Rahmenbedingungen etwas, das Kunst hervorbringt. Das ist ein anderer Zugang als bei einem Malerfürsten. Die Fliegenbilder etwa sind mit transparentem Zuckerwasser gemalt. Die Fliegen lieben Zucker, saugen daran und bleiben kleben. Was der Maler macht, ist unsichtbar, denn die Fliegen bringen als Bildpunkte das Motiv hervor. Insofern baue ich im Hintergrund ästhetische Fallen, die Prozesse wahrnehmbar machen.


HB: Darf ich vielleicht noch einmal auf die Fliegen zurückkommen, denn Fliegen sind meine Lieblingstiere, mit denen ich mich viel beschäftigt habe. In der traditionellen Emblematik ist die Fliege das Tier der Vanitas. Darum ist für mich die Bildserie von Thomas Hobbes’ Leviathan bis hin zum Totenkopf geradezu eine Anrufung dieser Tradition. Der Gott Baal ist der Herr der Fliegen, der über die Unordnung und das Rauschhafte eine Herausforderung für den monotheistischen Systemgott Jahwe darstellt. Die Fliege symbolisiert das Moment des Sündigen, Chaotischen und Diabolischen. Wenn Du eine Bildserie machst, in der die Geschichte der Ordnungsdenker aus Fliegen gebildet wird, dann ist das für mich eine Erzählung beziehungsweise eine Deiner konzeptuellen Narrationen. Die starre Ordnung wird durch eine Destruktion aufgebrochen, indem eine ephemere Form des Lebendigen hereinbricht. Aus dieser ausgegrenzten schmutzigen Restmenge, die ja gerade einen essenziellen Teil des Lebens ‒ das ens der Entität ‒ ausmacht, entsteht eine neue Virulenz des Lebendigen.


TF: Es gibt eine gewisse Vorliebe für Organismen wie Fliegen, Speck- und Museumskäfer, Pilze und Bakterien, weil es „Entropiebeschleuniger“ sind. Die verwendeten Käfer sind Kulturschädlinge, weil sie u.a. in Museen Bilder und Skulpturen auffressen können. Natürlich haben Insekten und Pilze etwas Morbides, da sie uns bei einer Erdbestattung wieder zurückführen in den Kreislauf des Lebens. Diese Destruenten hängen unmittelbar mit dem Vanitas-Motiv zusammen, da sie mit einer Ästhetik der Verwesung und Entropie zu tun haben. Kunst hat traditionell nichts mit Entropie zu tun, sondern mit Form und Information. Sie schafft kulturelle Werte, bildet sozusagen cultural heritage durch die Akkumulation und Verdichtung von Information in materialisierter Form. Entropie und Verwesung sind dagegen die Erzfeinde der Kultur. Deshalb unterhalten wir Museen und Bibliotheken als Speicher und Tresore, um Artefakte und Information vor der Entropie zu retten. Wir pflegen unsere Autos, sonst rosten sie, das heißt, die Entropie frisst uns dauernd etwas weg, sie liegt uns auf der Tasche, sie ist die Inflation des Lebens. Biologische Entropie bedeutet auch zu altern und Falten zu bekommen. Wir werden runzliger, die Telomere werden immer kürzer und letztendlich sterben wir an Altersschwäche oder Krebs. Die Entropie ist das Trauma unserer Existenz und Kunst und Kultur verstehen wir als Medizin, die uns davor schützen oder zumindest trösten soll. Wir führen in all unserem emsigen Tun einen erbitterten Kampf gegen die Entropie und traditionsbedingt war alles, was mit Vanitas und Entropie zu tun hat, böse, schlecht und teuflisch. Die Erfahrung der Entropie ist die ureigenste Kränkung des Menschen, weil sie all unser Streben unterminiert und die Bedingung der Möglichkeit für etwas beinhaltet, das komplexer ist als wir selbst. Das macht uns Angst, wäre aber mythisch gesprochen etwas Göttliches. Im Gegensatz dazu beten wir zu einem ordentlichen Gott, dass er uns und unsere Welt stabilisiert und in paradiesischen Zuständen konserviert. Das Leben wird zwar gemeinhin als negentropische Maschine beschrieben, aber ich wage die These, es gäbe uns ohne Entropie nicht: Gäbe es ohne Entropie Evolution und hätten sich jemals Proteine entwickelt? Die Entropie schafft vielleicht gerade die Voraussetzung für Komplexitäten und höhere Ordnungen. Auf der bildnerischen Ebene interessiert mich eine Ästhetik der Entropie, weil dadurch das Andere und Fremde hereinbricht. Deshalb arbeite ich mit Destruenten wie Pilzen, die im Verborgenen kilometerlange Myzelien hervorbringen, oder mit Mikroorganismen, die unsichtbar unseren Körper besiedeln. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir kolonialisiert sind: Zehnmal mehr Fremdorganismen wie eigene Zellen im Körper verdeutlichen, dass wir nicht wir selbst sind. Wenn alle Zellen und Mikroorganismen in unserem Körper wahlberechtigt wären und über unsere Identität abstimmen könnten, würde es schlecht für uns ausgehen. Wir würden nicht mehr Mensch heißen.


HB: Entropie kann man als Falllinie des Seins oder im Sinne von Freud als Thanatos, als Rückkehr des Seins in den Zustand der Bewegungslosigkeit und Erstarrung ansehen. Das Instrument, mit dem wir par excellence Zeichen produzieren, Werte setzen und gegen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, das Entropiegesetz ankämpfen, ist die Tastatur. Wenn Du eine Tastatur aus Hackfleisch formst und an Maden verfütterst, durchlebt das Keyboard eine Metamorphose, indem es sich in Käfer verwandelt. Insofern könnte man sagen, die Entropie ist die Voraussetzung für Metamorphose und neues Leben. Gäbe es keine Entropie und keinen Tod, gäbe es auch keine energetischen Prozesse. Das eine setzt das andere voraus. Und so sehe ich auch Deinen Umgang mit Vanitas und Todessymbolik, nicht nur in Bezug auf biologische Prozesse und Materie, sondern auch auf Sprache. Beispielsweise bringen Deine Eisskulpturen, die unseren Atem gefrieren lassen, ein Objekt im Raum hervor, dessen Tauwasser für die Synthese von Aminosäuren, also Bausteinen des Lebens, genutzt wird. Das Erstarren des Atems ist ein entropischer Kältetod der Sprache, bringt aber durch die Metamorphose eine semantische Artikulation ins Spiel, die nicht anders als in Form der Kunst zu haben und zugleich auch eine Spiegelung der Kunst ist. Legen sich die Dunstwolken des Diskurses, bleibt schlussendlich nichts als Eis. Dabei sehen wir ein Spiel mit Ambivalenzen, das sowohl eine romantische, vitalistische Konzeption von Metamorphose zeigt wie auch diesen linearen Prozess des Niedergangs, also Vanitas, beinhaltet. Sowohl eine entropische als auch negativ entropische Interpretation der Geschichte ist darin auszumachen. Beides sind Linien, die sich überschneiden und einen Knoten bilden. Deswegen sprichst Du vielleicht auch von Deinen Werken als Knoten, da sie beide Seiten enthalten. Ein Knoten scheint auf den ersten Blick verworren und eine Verknotung ist etwas höchst Unordentliches. Sie steht im Gegensatz zu hierarchischen Ordnungen, wie sie Deine Bibliotheksbilder vorführen, in denen Verzeichnisse, Sammlungen, Systeme, Archive, Arsenale usw. vorkommen. Man könnte diese Bibliotheken als große Beerdigungsstätten oder Friedhöfe der kulturellen Semantik bezeichnen. Dennoch sind sie Ausdruck des Geistes und ihre Ordnung ist Voraussetzung für einen neuen lebendigen Geist. Die Ambivalenz und Doppelstruktur aus Entropie und Information, Erstarrung und Metamorphose scheint mir konstitutiv für Deine Arbeiten zu sein. In der Verwendung von Pilzen kommt dies besonders gut zum Ausdruck. Pilze bauen die größten Organismen der Welt, gigantische, unterirdische Netzwerke. Was in der Diskurstheorie mit Rhizom beschrieben wird, kommt auch im Myzel der Pilze zum Ausdruck, womit ein anderes Modell ins Spiel kommt, das Natur und Kultur, Wissenschaft und Technologie, Individuum und Kollektiv, das Mikrologische und das Makroskopische miteinander verknüpft.


TF: Rhizome sind Klonierungen ein und derselben Pflanze. Sie können zwar riesig sein und zusammenhängen, aber sie sind genetisch redundant. Pilze dagegen leben oft in Symbiose mit anderen Pflanzen oder Bäumen, das heißt, wir haben über die Mykorrhiza eine Verlinkung zwischen verschiedenen Arten. Das macht das Myzel für mich zu einem biologisch adäquateren Begriff für ein vernetztes Denken. Als Metapher für das Internet wäre Myzel für die meisten vermutlich zu subversiv, da Pilze Destruenten sind und eine zersetzende Wirkung haben. Dies impliziert, dass Bilder von den Seiten plötzlich verschwinden und in den Texten Zeichen fehlen. Dass Buchstaben oder allgemein Informationen verzehrt werden und sich metamorphotisch transformieren, verdinglichen und verfleischlichen, ist ein altes Thema in Mythen, aber auch ein Paradigma der Informations- und Biotechnologien. Wenn die Tastatur aus Hackfleisch von Maden verspeist wird, verwandelt sich das Werkzeug der Dichter und Philosophen und beginnt wegzukriechen. Auf der deutschen Schreibmaschine gibt es eine einzige Buchstabenkombination, die ein deutsches Hauptwort ergibt: WERT. Das ist symptomatisch, denn mit dem Gebrauch von Tastatur und Sprache gehen Wertsetzungen einher, egal ob Rechnungen, Formeln, Liebesbriefe oder Romane geschrieben werden. Diese Werte frei nach Nietzsche umzuwerten, setzt einen anderen Sinnkreislauf in Gang. Es kommt buchstäblich zu einer Übersetzung, transsubstanziellen Verdinglichung oder Verfleischlichung.


HB: Wir haben Pilze, Myzelien, Netzwerke und natürlich Knoten, denn ohne Knoten kann man ein Netzwerk nicht denken. Du schaffst Überschneidungen und Heterogenitäten, wodurch unterschiedliche Fäden zusammenlaufen und sich übersetzen. Zwischen den Knoten braucht es Verbindungen und Leitungen, womit ich ein weiteres ästhetisches Element, die Linie, anspreche. Der Schlauch, das Kabel, die Leitung sind zentrale Elemente Deiner Formensprache. Selbst ein Glasgebilde wie das PARLAMENT verschmilzt polypenhafte Röhren zu einem Knoten, der an eine Krone erinnert. Dort finden Stoff- und Informationsflüsse als Austausch- und Verschmelzungsprozesse biologisch, aber auch symbolisch statt. Die Leitung ist bei den Laborexperimenten, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen ein durchgehendes und im mehrfachen Sinn verbindendes Motiv. Diese Formelemente, die eigentlich den einfachen Prinzipien lebendiger Organismen entnommen sind, erinnern an Funktionsweisen lebendiger Materie. Arbeiten Kunst und Wissenschaft hier an denselben Phänomen und das nicht erst seit heute? Wenn man in die Renaissance zurückblickt, bestand die Schnittmenge zwischen ars und scientia in Fragen der Lebendigkeit. Heute, wo das Biologische in den Mittelpunkt getreten ist, scheint Deine Kunst genau in dieser Tradition zu stehen.


TF: Ich bin kein Wissenschaftler, aber mich interessieren Materialien und Methoden, die aus der Wissenschaft kommen. Materialitäten spielen für die Kunst seit der Moderne bis heute eine immer größere Rolle. Es mag paradox klingen, aber gerade das digitale, sprich virtuelle und immaterielle Informationszeitalter mit Materialitäten zu verbinden, stellt die Voraussetzung für das neue molekulare Zeitalter bereit. Bereits im Mythos benötigte das Geistige immer Materie und Körper, um zu inkarnieren, das heißt Fleisch zu werden. Götter brauchen Avatare, in die sie sich wie in einem Server einloggen. Bildende Kunst rangierte historisch aufgrund ihrer Materiegebundenheit in der Hierarchie weit unten. Musik, Literatur galten als freie Künste ‒ artes liberales ‒, weil sie scheinbar von allen materiellen, körperlichen Zwängen entbunden waren und dem Geist näher standen. Bildende Kunst war dagegen eine Gefangene des Materiellen und wurde den technischen Künsten oder artes mechanicae zugerechnet. Heute, im Paradigma des Molekularen, positiviert sich dieses alte Manko und wird zu einer spezifischen Qualität bildender Kunst. Als zeitgenössischer Künstler bin ich daher in der bildenden Kunst genau richtig, da sie mir Möglichkeiten eröffnet, mit Atomen und Molekülen zu arbeiten und das Schisma zwischen Körper und Geist, zwischen Materialität und Information aufzulösen.


HB: Obwohl es da ja auch Übergänge gibt, ich denke an die Sprachdestillate.


TF: Bei POEM und den Destillaten interessierte mich genau diese Verknüpfung zwischen Materie und Sprache. Jede Flasche ist für mich eine molekulare Skulptur. Bei der Synthese wird das Kondenswasser der Atemluft über chemische Prozesse mit Aminosäuren angereichert und über Reaktionen mit Gasen entsteht Ethanol. Diese organischen Moleküle sind für mich Skulpturen, die über den Prozess ihrer Herstellung Geschichten aus Wissenschaft, Kunst, Literatur, Mythos und Epistemik verbinden. Die Übersetzungen und Transmutationen passieren auf naturwissenschaftlicher, aber auch auf künstlerischer und fiktiver Ebene. Wenn wir statt Alkohol Weingeist oder Spiritus sagen, schwingt bis heute etwas Geistiges oder Dämonisches mit. Im betrunkenen Zustand spricht etwas anderes glossolalieartig aus uns. Deswegen fungieren die Flaschen und ihre Moleküle gleichzeitig als Skulptur, verflüssigte Literatur und Informationsspeicher. Werden sie getrunken, geschieht eine Einverleibung, und vielleicht erfahre ich als Betrunkener eine molekulare Inskription und werde zu einem performativen Teil. Bei der Arbeit PANCREAS wird dieses Prinzip auf Ebene der geschriebenen Sprache, der Schrift vollzogen: Die Skulptur besteht aus einem künstlichen Darm, einem Bioreaktor mit Bakterien, der die im Papier enthaltene Cellulose in Zucker beziehungsweise Glucose zerlegt. Die Bücher und Textseiten werden zu Glucose verdaut und ernähren in einem zweiten Bioreaktor menschliche Gehirnzellen. Glucose fasziniert mich, weil jede Zelle in Pflanzen, Tieren oder Menschen sich von ihr ernährt. Speziell unser Gehirn ist ein Glucose-Verschwender, da bis zu 75 Prozent in unseren Köpfen verpufft. Dass Sprache, Symbole, Zeichen sich in Materie übersetzen, ist vielleicht eine aberwitzige Vorstellung, die wir sonst nur in der Zauberei finden, wo eine gesprochene Formel Dinge verschwinden oder hervorbringen lässt. Dies begegnet uns in der Tradition des Kabbalismus oder als Transsubstanziation im Christentum, wo aus Worten Fleisch und Blut wird. Gegenwärtig erleben wir technologisch betrachtet ein Zeitalter des „Neokabbalismus“, wenn sich Computertexte über 3D-Drucker materialisieren und reale Dinge werden. Die prozessualen Skulpturen haben etwas Pataphysisches und Ironisches, spiegeln aber dennoch eine Ernsthaftigkeit, weil die Lebenswissenschaften heute den Textbegriff erweitern. Diese Erweiterung des Textbegriffes, wie sie sich u.a. bei Derrida findet, erfährt bei mir vielleicht eine illegitime Bastardisierung aus Immaterialität und Materialität, aber daraus entsteht ein aktueller Knoten. Knoten haben etwas Transhistorisches, wenn Fäden aus der Vergangenheit in der Gegenwart zusammenlaufen und sich mit einer möglichen Zukunft verknüpfen. Werke funktionieren für mich als Knoten, wenn sie als dichte Beschreibungen, Möglichkeits- und Übersetzungsmaschinen operieren. Deswegen steht eine bildnerische Materialisierung nicht im Widerspruch zu Prozessen. Materialitäten sind Teil eines bildnerischen Denkens, insbesondere einer bildhauerischen Praxis. Die Idee, Sprachskulpturen zu realisieren, die feuchte Atemluft zu Eisklumpen gefrieren, spielt gleichzeitig mit physikalischen und symbolischen Übersetzungen und Aggregatzuständen. Je mehr Menschen in einem Ausstellungsraum über Kunst sprechen, umso mehr heiße, feuchte Luft kommt aus ihrem Mund und umso schneller und größer wächst die Skulptur. Und umso mehr Kondenswasser POEM zur Verfügung steht, desto mehr Alkohol wird destilliert, der wiederum von den Ausstellungsbesuchern getrunken wird, was sie noch gesprächiger macht: Sprechen, destillieren, trinken. Dies birgt etwas Ironisches, etwas Ernsthaftes und gleichzeitig etwas Banales. Aber wenn über Kunst nur heiße Luft geredet wird, dann kommt wenigstens eine Arbeit heraus.


HB: The spirit distilled from words.


Einzelnachweise

  1. Das Gespräch zwischen Hartmut Böhme und Thomas Feuerstein fand auf Einladung von Ralf Hänsel in der Galerie 401contemporary in Berlin am 24. August 2012 statt.
  2. Die Ausstellung Thomas Feuerstein. POEM war vom 9. September bis zum 15. Oktober 2011 in der Galerie 401contemporary in Berlin zu sehen.
  3. Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of The Universe, Köln 2006