Das Eigenleben der Objekte
Aus Daimon
Ein Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Graham Harman
TF: Wir treffen uns im Monat März, der in H. P. Lovecrafts The Call of Cthulhu (1926) eine zentrale Rolle spielt. Maler und Dichter haben verrückte Träume, Albträume von einer bizarren Architektur und einem bizarren Organismus. Heute ist der 12. März, und ich würde gerne unser Gespräch mit Lovecraft und Schleim beginnen.
GH: Tatsächlich habe ich Lovecraft erst spät gelesen. Die meisten Leute lesen ihn als Teenager, und ich weiß nicht, ob ich als Teenager überhaupt wusste, wer das war. Ich habe Lovecraft erst zu lesen begonnen, nachdem der Band mit seinen Werken in der Library of America erschienen ist. Hätte man mich zuvor über Lovecraft befragt, hätte ich gesagt, ist das nicht einer von diesen Horrorautoren à la Stephen King, und nichts dagegen, aber ich habe wahrscheinlich keine Zeit, diesen Schund zu lesen. Doch in dem Band der Library of America wurde er in einem Atemzug mit Edgar Allan Poe genannt, und ich bin ein großer Fan von Poe. Obwohl ich diesem Anspruch skeptisch gegenüberstand, beschloss ich, einen Versuch zu wagen. Die Geschichten sind chronologisch geordnet, sodass sie mich zunächst nicht wirklich interessierten. Was mich als erstes packte, war The Case of Charles Dexter Ward (1927). Ich sah in diesem Werk wirklich etwas Neues und Großes, und als ich dann zu den berühmteren Stories kam, war ich natürlich richtig gepackt. Ich mag Lovecraft aus vielen ähnlichen Gründen, aus denen ich auch Poe mag. Es sind nicht nur die gemeinsamen Themen, sondern auch die Art, Sprache zu benutzen. Sie haben eine bestimmte Art, Dinge zu sagen, und das, was sie sagen, zugleich zurückzunehmen. Jemand meinte einmal, Chthulhu sei nicht furchterregend, denn ein Drache mit einem Oktopuskopf jage niemanden einen Schrecken ein. Und das würde auch stimmen, aber so wird Cthulhu eben nicht beschrieben, sondern eher etwa so: „In meiner zerrütteten Fantasie erblickte ich einen Moment lang eine Art Drachentorso mit einem geschuppten, breiigen Tentakelkopf und einer vage humanoiden Kontur, und doch war der allgemeine Eindruck irgendwie entsetzlicher als alle diese Elemente für sich genommen.“ Sehen Sie, man kann es nicht direkt veranschaulichen. Denn man kann nicht in bildlicher Hinsicht das hinzufügen, was er in sprachlicher hinzufügt, sprich die Unbeschreibbarkeit. Und er sagt nicht einfach nur: „Es ist so erstaunlich, dass es unbeschreiblich ist und sich nicht in Worte fassen lässt“. Sondern er unterläuft auch diese Strategie. So heißt es etwa in The Dunwich Horror (1928), als Wilburs Körper auf dem Boden der Bibliothek zerfällt: „Es wäre abgedroschen und nicht ganz zutreffend zu sagen, dass keine menschliche Feder dies beschreiben könnte.“ Er ist sich also der Tatsache bewusst, dass er das Klischee vermeiden möchte, zu sagen, etwas sei so erstaunlich, dass es unbeschreiblich ist, und beschreibt es dann trotzdem. Auch Poe macht das häufig. Poe hat bei diesem Trick vermutlich Pionierarbeit geleistet, außer es gibt noch frühere französische Quellen. Poe sagt häufig Sachen wie: „Man hörte nur einige sonderbare Geräusche, und diese stammten von Streichinstrumenten, die Usher nicht erschaudern ließen.“ Er lässt also alles in der Schwebe. Und dennoch hat man das Gefühl, es sei sehr konkret und stünde einem unmittelbar vor Augen. Das ist mir wichtig, denn das sind Objekte für mich. Objekte sind da; man kann sie nicht mit Hilfe einer Beschreibung paraphrasieren, aber sie sind dennoch wirklich da. Es gibt etwas jenseits der Worte, aber nicht gänzlich jenseits der Worte. Das sind meine ersten Gedanken zu der Frage, warum Lovecraft mich derart angezogen hat.
TF: Lovecrafts Beschreibungen von Cthulhu variieren sehr stark. Manchmal heißt es, er habe einen Oktopuskopf, doch zugleich wird von ihm behauptet, er löse sich auf. H. C. Artmann bezeichnete dies als „versprengte Plastizität“. Es ist wie Negris Multitude. Es löst sich auf und kommt wieder zusammen, hat also keine festgelegte oder statische Form. In der traditionellen Bildhauerei bestehen Statuen aus Bronze oder Marmor, doch Cthulhu ist ein neues Konzept, um eine Form zu beschreiben. Es ist eine Form, doch zugleich ist es immer auch eine Antiform. Form – Antiform war ein verbreitetes Thema in der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahren, vor allem bei Robert Morris und in der amerikanischen Konzeptkunst. Für mich beinhaltet Cthulhu beziehungsweise Schleim vor allem ein Konzept der Kontingenz. Er birgt alle erdenklichen Formen, und gleichzeitig entzieht er sich jeder fixen Form. Er ist der Albtraum für jede klassische Skulptur. Schleim symbolisiert eine unheimliche Ordnung, die für Unordnung, Chaos, Entropie, Sepsis, Verfall usw. steht. In unserer Kultur haben wir Angst vor Schleim, denn Schleim ist ein Symbol für all diese negativen Dinge. Nichtsdestoweniger werden wir im Schleim geboren und wir enden als Schleim im Grab.
GH: Das ist ein entsetzlicher Gedanke.
TF: Vielleicht entsetzlich, aber genau deswegen gibt es Kultur. Sie hilft uns, trocken und sauber zu bleiben. Wir sitzen beispielsweise gerade in einer Bibliothek. Und Bibliotheken sind nicht nur Symbol und Ausdruck für Kultur, sondern auch für Trockenheit. Auch Museen sind trockene Orte, verfügen über spezielle Klimaanlagen usw. Selbst unsere Körper und Gesichter versuchen wir trocken zu halten. Wir versuchen, nicht zu schwitzen, wir putzen uns die Nase, wir versuchen, keine Tränen in den Augen zu haben usw. Wir haben eine Kultur der Mumifizierung, der Petrifizierung und der Musealisierung. Schleim stellt für mich einerseits ein erweitertes kulturkritisches Konzept bereit. Und andererseits ist er für mich ein interessanter skulpturaler Werkstoff. In Ihrer Philosophie spüren Sie dem Wesen der Objekte nach. Welchen Objektstatus hat Schleim? Was ist Schleim? Erinnern Sie sich beispielsweise an diesen Flüssigmetall-Roboter in Terminator 2? Er konnte jede Form annehmen, humanoid oder dinglich.
GH: Man kann das auf unterschiedliche Weisen sehen. Eine ist, darin einen anti-objektorientierten Werkstoff auszumachen, der nichts Besonderes ist, wie das apeiron in der vorsokratischen Philosophie oder wie Gilbert Simondons Vorindividuelles, bei dem es sich um nichts wirklich Bestimmtes, doch etwas allem Individuellen Vorgängiges handelt. Ich bin mir dessen aber nicht so sicher, denn Lovecraft spricht häufig über Dinge, die formlos zu sein scheinen, tatsächlich aber eine Form haben, die irgendeinem auf der Erde unbekannten Formprinzip entspricht. In Lovecrafts Geschichten sehen Objekte häufig grauenerregend aus, doch tatsächlich scheint ihnen ein Organisationsprinzip zugrunde zu liegen, das sich aber unserem Verständnis entzieht. Vielleicht erinnern Sie sich an The Colour Out of Space (1927), wo es Tropfen von Farbe gibt, die in der Quelle landen und alles vergiften. Das bedeutet Schleim für mich. Für mich ist das fast etwas, das eine andere Art Objekte nahelegt als diejenigen, die uns visuell zur Verfügung stehen. Ein Objekt muss nicht dauerhaft oder fest sein, um ein Objekt zu sein. Damit etwas ein Objekt ist, muss es lediglich in keiner Richtung weiter reduzierbar sein. Man darf es weder auf seine Teile noch auf seine Wirkungen reduzieren können. Schleim erfüllt dieses Kriterium ebenso gut wie irgendetwas Anderes, denn wenn man Schleim in Atome oder subatomare Teilchen auflöst, ist es kein Schleim mehr. Es bedarf einer emergenten Schleimhaftigkeit. Und Schleim ist auch nichts, bei dem es sich einfach nur um seine Auswirkungen auf uns handelt oder um das Grauen, das es bei uns auslöst. Es gibt da etwas, das verlangt, dass wir uns ihm auf eine bestimmte Weise nähern. Schleim hat für mich also auch etwas Objekthaftes. Aber ich stimme Ihnen zu, dass man in gewisser Hinsicht auch die Auffassung vertreten kann, dass die menschliche Kultur um die Vermeidung von Schleim herum organisiert ist. Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als mit Schleim bedeckt zu sein und über einen langen Zeitraum in diesem Zustand verharren zu müssen. Doch bei Lovecraft, meine ich, spielt Schleim eine andere Rolle. Er hat bei ihm etwas Transzendentes, weist auf etwas Tieferes hin, das wir nicht begreifen können.
TF: In der Kunst des Mittelalters gab es die Unterscheidung zwischen den artes liberales und den artes mechanicae. Die artes liberales waren immaterielle Künste wie Dichtung oder Musik. Die bildende Kunst wurde dagegen den artes mechanicae zugerechnet, weil alles Körperliche und Materielle säuberlich vom Geistigen getrennt wurde. Musik war Mathematik, Literatur war Rhetorik und Philosophie. Skulptur und Malerei war dagegen nur Fleisch und schnöde Materie. Das große Defizit von bildender Kunst bestand also darin, dass Skulpturen und Bilder aus Materie bestehen. Genau dieses alte Manko macht für mich bildende Kunst heute interessant. Werke aus spezifischen Materialien zu fertigen und diese Teil einer Narration werden zu lassen, löst die hermetische Trennung in Körper und Geist, in Material und Konzept auf. Deswegen interessiere ich mich für die Verwendung spezieller Materialien. Mich interessant, neue Materialien herzustellen und mit diesen neuen Materialien neue Werke zu schaffen. Auch Sie befassen sich mit der Kluft zwischen der ersten Kultur und der zweiten Kultur, etwa in Ihrem Essay über die beiden Tische von Arthur Eddington, in dem sie den Unterschied zwischen dem molekularen Tisch und dem Tisch in unserer Sprache und unserem Denken erläutern. Für mich ist interessant, nicht einfach nur Geschichten mit Worten oder Bildern zu erzählen, sondern auch mit Materialien und Molekülen. Diese Moleküle können in einem naturwissenschaftlichen Sinne real und ebenso fiktional sein. Ich glaube, diese beiden Aspekte zusammenzubringen, ist ein klassisches Thema, das es in der amerikanischen Literatur seit den 1950er-Jahren gibt und als spekulative Fiktion bezeichnet wird. Sie sind einer der Begründer der Philosophie des spekulativen Realismus. Wir hatten den linguistic turn, dann den pictorial turn und einige Leute sagen, jetzt hätten wir den material turn. Was meinen Sie dazu?
GH: Erst einmal meine ich, dass es Ihnen in Ihrer Ausstellung gelungen ist, neue Materialien zu produzieren und ihnen neue Wirkungen zu entlocken. Ich hatte mir die Möglichkeit solcher Objekte wie des Schleims, den ich heute in der Ausstellung gesehen habe, nie vorgestellt. Ich lehne den material turn ab, aber nicht das, was Sie unter Material verstehen, nämlich dass man es mit gewissen Bedingungen bei Werkstoffen zu tun hat und sich diese zunutze macht, indem man neuartige Wirkungen erzielt. Für mich ist das Problematische am Materialismus genau das, was Bruno Latour in seinem Artikel Can We Get Our Materialism Back, Please? (2007) auf den Punkt gebracht hat. In diesem Essay schreibt er, das Problem mit dem Materialismus sei, dass die Leute, wenn sie über Material sprechen, annehmen, sie wüssten, was der zugrunde liegende Stoff sei, aus dem die ganze Welt besteht, und normalerweise ist das die physische Materie. Wohingegen das, woraus die Welt gemacht ist, tatsächlich ein Geheimnis ist und ein Geheimnis bleiben wird. Für mich wird es immer eine Form bleiben. Doch während man Form normalerweise mit dem verbindet, was der menschliche Geist begreifen kann, behaupte ich das Gegenteil. Es sind die verborgenen Formen, das, was die Menschen im Mittelalter als substanzielle Formen bezeichnet haben, die sich von den Formen, die wir begreifen, unterscheiden. Im Werk meines Kollegen Quentin Meillassoux gibt es eine Bindung an den Materialismus, die ich nicht teile. Der Grund hierfür ist, dass er den kartesischen Dualismus zwischen Denken und toter Materie aufrechterhalten will, während das meines Erachtens keinen Sinn hat. Ich sehe keine philosophische Grundlage dafür. Warum sollten wir sagen, Menschen seien die eine Hälfte des Universums und tote Materie sei die andere? Obwohl ich viele der Arbeiten, die heutzutage unter dem Namen Materialismus firmieren, schätze, kann ich die Präsupposition, das Material sei irgendwie realer als das Formale, nicht teilen. In dieser Hinsicht bin ich ein Formalist, aber es ist ein Formalismus, in dem die Formen verborgen sind.
TF: Aristoteles bezeichnet Materie als hylē. Man geht nach draußen, und dort befindet sich hylē, denn im antiken Griechenland gab es viele Bäume und Wälder, und hylē bedeutet auch Holz oder Wald. Weiters sagt er, dass wir Technologie, téchne, benötigen, um dynamis in die hylē zu bringen. So erzeugen wir entelecheia, die Wirklichkeit unserer Kultur, unserer Zivilisation. Heute hat sich dieser Ansatz gegenüber den materiellen Dingen, den Artefakten aktualisiert, denn diese Artefakte wechseln aus meiner Sicht von Objekten zu Subjekten. Technologien bringen neue Dynamik in die Materie, indem die ehemals passive Materie in einen neuen Zustand gelangt. Ich stimme Ihnen als Begründer der objektorientierten Philosophie zu, doch für mich als Künstler sind die Werke, die ich herstelle, nicht Objekte, sondern Subjekte. Ich interessiere mich nicht für einen Subjektivismus in der Kunst und ich bin nicht wichtig als Urheber meiner Kunst. Aber ich interessiere mich für die Werke als Subjekte, denn die Werke sind Prozessoren, sind Performer. Sie stellen selbst etwas her, sie produzieren Materialien für ein anderes Werk, sie erzählen Geschichten usw. Für mich ist es interessant, mich mit Artefakten als Subjekten zu befassen und ich verfolge in diesem Sinn eine subjektorientierte Kunst. Vielleicht liegen unsere Ansichten nicht so weit auseinander, aber sie unterscheiden sich. Sie interessieren sich für Objekte, ich interessiere mich für Subjekte. Die Werke als Subjekte unterrichten mich, was ich in meinem Atelier und in meinem Denken zu tun habe.
GH: Ja, natürlich. In der Kunst hat das Wort ‚Objekt‘ eine Geschichte, die es in der Philosophie so nicht hat. Vor allem in der neueren Kunst der letzten fünfzig Jahre stand ‚Objekt‘ häufig für die altmodische Sorte Kunst, von der sich die Leute in den 1960er-Jahren mit Konzepten, Performances und Installationen zu entfernen versuchten. Ich schlage mich dabei nicht auf die eine oder andere Seite dieser Debatte, denn für mich umfasst der Begriff ‚Objekt‘ viel mehr. Aber ich stimme dem, was Sie über Subjekte sagen, gerne zu. Für mich gibt es keinen großen Unterschied zwischen Objekten und Subjekten. Zumindest sollte man sie zunächst nicht voneinander unterscheiden. Kant sprach von dem Ding an sich, das Menschen nie begreifen können. Doch mir scheint es zu beschränkt, dies auf den Menschen zu begrenzen. Es handelt sich hier nicht um eine besondere Art von menschlicher Endlichkeit, sondern die Unzugänglichkeit des Dings an sich gibt es in jeder Beziehung. In jeder Beziehung treten Dinge nur in einen teilweisen Kontakt miteinander. Sie setzen die Kräfte des anderen nicht völlig frei. Selbst wenn Feuer Baumwolle verbrennt, wie im Lieblingsbeispiel der islamischen Philosophie, wird das Feuer nicht sämtliche Aspekte der Baumwolle verbrennen. Ich bin also gerne bereit, Objekte als Subjekte zu betrachten. Und ich folge ebenfalls gerne der Ansicht, dass Kunst immer ein Subjekt hat. Letzthin habe ich Michael Frieds berühmten Essay Kunst und Objekthaftigkeit (1967) kritisiert, in dem er zwei sehr verschiedene Dinge miteinander vermengt. Er wirft den Minimalisten vor, sowohl buchstäblich (literal) als auch theatralisch zu sein. Nun, ich verstehe die Kritik des Literalismus. Wie Clement Greenberg versucht auch Fried zu sagen, die Kunst benötige einen gewissen Grad an Autonomie, sie sei nicht einfach mit ihren soziopolitischen Wirkungen und ihrer biografischen Bedeutung oder ihrem relationalen Kontext identisch. Und ich kann dem beipflichten, weil ich nicht glaube, dass sich ein Objekt jemals unter dem Gesichtspunkt seiner Beziehungen zu seiner Umwelt paraphrasieren lässt, weil man es an verschiedene Orte bringen kann und es sein eigenes Innenleben hat. Daneben mag Fried auch das Theatralische nicht, weil er meint, nur weil die Minimalisten das Kunstwerk wörtlich nehmen, habe es keine innere Tiefe. Die einzige mögliche Bedeutung, die es haben kann, bestehe darin, eine Reaktion seitens der Menschen hervorzurufen, und dies lasse es leider theatralisch werden. Für Fried würde daraus folgen, dass Kunst Kunst ist, selbst wenn die gesamte Menschheit aussterben würde. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich dem zustimme. Ich meine, Kunst muss in einem gewissen Sinne theatralisch sein. Ich glaube, er verwechselt zwei unterschiedliche Seiten der Menschen. Einerseits sind Menschen Betrachter von Kunstwerken, und ich würde zustimmen müssen, dass das Kunstwerk tiefer ist als der Betrachter, denn der Betrachter kann sich immer wieder zu neuen Interpretationen herausgefordert sehen, da dem Kunstwerk eine Tiefe innewohnt, die sich uns entzieht. Doch das Menschliche ist auch ein Bestandteil der Kunst, sagen wir, das Subjekt ist auch ein Bestandteil der Kunst. Und das kann man nicht wirklich davon trennen. Nicht nur nach einem Atomkrieg, wenn nur noch Kakerlaken auf der Erde leben, sondern selbst wenn ein dreijähriges Kind durch diese Galerie läuft, das nicht zwangsläufig erkennt, dass es sich hier um Kunst handelt. Oder Joseph Beuys‘ Kojote könnte hier durchlaufen, und das könnte ein selbständiges Kunstwerk sein, aber auch der Kojote erkennt nicht zwangsläufig, dass das Kunst ist. Ich glaube also, dass man ein Subjekt in der Kunst braucht. Aber das mit dem Kunstwerk kombinierte Subjekt bildet für mich ein neues Objekt. Das ist das Entscheidende.
TF: Das, was ein Objekt für mich zu einem Subjekt macht, ist die natürliche oder künstliche Dynamik in Biologie und Technologie, die sich mit dem Begriff ‚Daimon‘ beschreiben lässt. Nehmen wir beispielsweise ein Wort wie Ingenieur. Es kommt aus dem Französischen und enthält ‚Genie‘, das sich vom lateinischen genius ableitet, der wiederum in der römischen Tradition mit dem griechischen daimon vergleichbar ist. Auch das englische Wort engine leitet sich von genius ab. Es handelt sich um das Einschreiben einer Idee in die Materie. Im Stahlwerk ist Stahl einfach nur Materie, doch in Form einer Maschine ist es ein Dämon. Und deshalb sind Dämonen für mich als Bildhauer interessant, denn ich ‚programmiere‘ meine Skulpturen semiotisch, ikonisch, aber auch molekular. Dämonen haben eine lange Geschichte. Für mich beginnt der Dämon in der klassischen griechischen Philosophie mit Sokrates und seinem berühmten daimonion. Das daimonion war ein Akt des politischen Widerstands. Demon oder daimon findet sich aber auch in demos und in ‚Demokratie‘. Wir haben einerseits diese philosophischen daimones und andererseits finden sich animistische daimones, die im antiken Griechenland, für die Fermentierung von Trauben zu Wein oder Milch zu Käse verantwortlich waren. Und dann haben wir diese Dämonen der Aufklärung, etwa bei Lord Kelvin, den berühmten Maxwell-Dämon oder den Laplace-Dämon. Im 18. und 19. Jahrhundert werden Dämonen Teil des rationalen, logischen Denkens. Vielleicht können wir mit Latour sagen, dass „wir nie modern gewesen sind“, doch diese Dämonen verwandeln sich in eine neue Art technologischer hauntology. Die kybernetischen Dämonen sind allerorts, sie sind omnipräsent. Sie sind eine äußerst rationale Spezies, die auf Elektronik und Informatik beruht. Wenn ich in meinem Auto fahre, dann führt mich ein Dämon, ein Navigationssystem. Wenn ich an meinem Computer sitze, dann kommuniziert er mit Servern, und ich weiß nicht, was er tut, aber er tut etwas. Wenn ich eine unzustellbare E-Mail verschicke, dann erhalte ich eine entsprechende Benachrichtung vom Mailer-Daemon. Ich kommuniziere also mit zahlreichen Dämonen, von denen ich die meisten weder sehen noch riechen kann. In Zukunft werden wir innerhalb aller Dinge Dämonen haben, nicht nur ‚intel inside‘, sondern ‚demon inside‘. Das ist bereits heute der Fall, doch wahrscheinlich wird es in naher Zukunft epidemische Ausmaße annehmen. Vielleicht unterscheidet sich Latours Denkweise hiervon nicht so sehr, weil wir von Dingen und Gegenständen eingeschränkt werden. Es ist ein Unterschied, ob wir es hier mit einem Wasserglas, einem Bierglas oder einer Teetasse zu tun haben. Und wir schreiben diesen Objekten auch etwas ein. Was soll man von dieser neuen Kategorie von Objekten halten, diesen Objekten, die zu Subjekten mit einem Dämon im Inneren werden? Meinen Sie, sie werden unser Denken, unsere Gesellschaft, unsere Kommunikation verändern?
GH: Ja, und es gibt bei Latour noch einen weitere Seite der Dämonen, das, was er in seinem neuen Buch Existenzweisen (2014) als die Existenzweise der Metamorphose bezeichnet. Und bei dieser versucht er, die Vorstellung loszuwerden, dass es bei der Psychologie um etwas Inneres und nicht um etwas Äußeres geht, dass Dinge in uns hereinfließen und wir Kanäle für Kräfte sind, die über uns hinausgehen. Wir können feststellen, dass wir etwas Dämonisches machen. In seinem Buch spricht er darüber, dass wir meinen, Psychologie sei eine rein innere Angelegenheit, und dennoch geht es bei den meisten unserer Videospiele darum, Monster zu töten. Wir konsumieren haufenweise psychiatrische Medikamente. Und daher sollten wir vielleicht die Vorstellung überdenken, unsere Psyche sei etwas vom Rest der Welt Abgeschirmtes, denn tatsächlich ist sie etwas, durch das gute und böse Kräfte strömen. Ich bin mir sicher, dass viele Leser darin einen obskurantistischen Katholizismus sehen werden, aber zumindest ist es eine Herausforderung für unsere übliche Denkweise, das Psychologische als etwas Inneres aufzufassen. Und seine technologische Existenzweise spielt da auch hinein, wie Sie mit ihrer Etymologie des Begriffs ‚Ingenieur‘ angedeutet haben. Denn Latour spricht da über die Verbindung zwischen Technologie und Magie und bezieht sich auf Gilbert Simondon. Überraschenderweise enthält Latours Werk, obwohl es sehr ausgewogen und zeitgenössisch wirkt, etwas über nicht-menschliche Kräfte, die durch uns hindurchströmen, sowohl in unserer Technologie als auch in unserem sogenannten psychologischen Leben. Sie haben recht, dass es da bei Sokrates diesen daimon gibt. Ich stand der Religion nie so feindlich gegenüber wie die meisten meiner Kollegen in der Philosophie. Der Grund hierfür ist meine Überzeugung, dass es eine Zeit für den Antiklerikalismus und eine Zeit für die Überwindung des Aberglaubens gab. Und ich glaube, einige Leute haben daraus fälschlicherweise die Schlussfolgerung gezogen: „Da das in der Vergangenheit funktioniert hat, müssen wir anfangen, noch mehr Aberglauben zu überwinden.“ Thomas Metzinger etwa sagt, dass es nicht mal ein Selbst gibt, aber er beweist es nicht wirklich in seinem Buch. Er beweist lediglich, dass das Selbst aus vielen Teilen besteht, aber er beweist nicht, dass es nicht existiert. Was mich an der Religion fasziniert, ist die Achtung vor dem Unbegreiflichen. Religion wird häufig als ein Dogma dargestellt und es gab eine Zeit, als das stimmte, aber das ist sie heute nicht mehr. Quentin Meillassoux nennt das, was ich hier sage, Fideismus, und für ihn ist das das Schlechtmöglichste, was man machen kann, dass man sich für die Irrationalität entscheidet, um überhaupt an irgendetwas zu glauben. Doch irgendwie ist es das, was der Religion ihre anhaltende Stärke verleiht, und es ist auch der Grund, warum sie nicht verschwindet. Es ist nicht einfach nur die Ignoranz der Massen, sondern liegt daran, dass der Religion und dem Glauben an solche Dinge etwas Spekulatives innewohnt. Und auch wenn Voltaire und seine zeitgenössischen Schüler sich darüber lustig gemacht haben, gefällt mir doch weiterhin die Idee, dort an einem Platzhalter für etwas festzuhalten, das wir nicht wirklich wissen. Das ist das, was uns die Religion geben kann, wenn sie kein Dogma ist. Und das ist glaube ich das, was uns fehlen würde, wenn es Leuten wie Richard Dawkins gelänge, alles niederzureißen.
TF: Der wichtige Punkt ist, dass sie kein Dogma ist. Denn das Dogma ist eine harte Geschichte, während in meiner Sicht Wissenschaft und Kunst primär weiche Geschichten sind. Wir können darüber sprechen, wir können sie verändern und wir können sie umschreiben. GH: Das stimmt. Aber mein Problem ist, dass ich auf der anderen Seite genauso viele Dogmatiker treffe wie auf der, über die ich mich beklage. Wir sind nicht gut dran, denn wir haben ISIS oder einige der Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten, mit denen sich nicht gut leben lässt. Doch genauso viel Dogmatismus finde ich bei den szientistischen Philosophen, die meinen, das einzige Ziel der Philosophie sei es, zu einem Einhorn-Schlachthof zu werden, wie ich das nenne. Diese Leute behaupten, wir müssten einfach nur alles töten, was nicht real ist. Mir leuchtet das nicht ein, denn es setzt voraus, dass wir bereits genug wüssten, um das zu tun. Und dieser Meinung bin ich nicht.
TF: Der Titel ihres Vortrags heute lautet Die ästhetische Zukunft der Philosophie. Das macht mich neugierig, denn die ästhetische Zukunft der Philosophie könnte auch die ästhetische Zukunft der Kunst sein.
GH: Ästhetik ist für mich von zentraler Bedeutung, denn Ästhetik handelt von etwas, über das man in der Philosophie normalerweise nicht spricht, nämlich der Unterscheidung zwischen einem Objekt und seinen Eigenschaften. Wie ich in Der Dritte Tisch (2012) schrieb, ist das Objekt weder hinsichtlich seiner Bestandteile noch hinsichtlich seiner Wirkungen paraphrasierbar. Das Kunstwerk nimmt eine Zwischenstellung ein. Bei Ihnen etwa spielt sich in Ihrer Ausstellung in Innsbruck etwas sehr Chemisches ab mit all den Röhren und blubbernden Flüssigkeiten, aber trotzdem kann man die Ausstellung nicht einfach nur unter dem Aspekt der chemischen Fakten erklären. Eine solche Erklärung ist erhellend, um zu begreifen, was da vor sich geht, aber sie liefert keine Begründung dafür, dass das ein Kunstwerk und kein chemisches Experiment ist. Es gibt da noch etwas Zusätzliches. Der Betrachter muss darüber nachdenken. Das Werk ist da, es ist etwas Objektives, und es fordert uns heraus, es auf andere Weise zu deuten. In dieser Hinsicht ist es der dritte Tisch. Ich habe das Konzept des dritten Tisches auf Sokrates zurückgeführt. Sokrates behauptet nicht, etwas zu wissen, und das ist keine bloße Pose, sondern er weiß es wirklich nicht. Die Sophisten sind diejenigen, die meinen, sie wüssten, dass entweder alles wahr oder nichts wahr ist. Deswegen halte ich Sokrates für den ersten Philosophen und nicht die Vorsokratiker. Die Vorsokratiker sind faszinierende erste Physiker, aber ich sehe in ihnen keine Philosophen im Sinne von Sokrates. Seit den Vorsokratikern haben sich viele Philosophen der Dinge entledigt, indem sie sie entweder unter- oder überminierten, sie auf ihre Bestandteile oder auf ihre Wirkungen reduzierten. Eine andere Möglichkeit, die Objekte loszuwerden, besteht darin, sie wie ein Bündel von Eigenschaften zu behandeln. Das ist das, was David Hume tat. Er pflegte zu sagen: „Es gibt keinen wirklichen Apfel, sondern einfach nur rot, hart, süß und saftig. Und ich sehe, wie diese Eigenschaften so häufig gemeinsam auftreten, dass ich annehme, es gäbe ein Ding namens Apfel, doch tatsächlich ist das nur eine Bezeichnung für all diese gehäuft auftretenden Eigenschaften.“ Dasselbe findet man oft bei analytischen Sprachphilosophen, dass ein Name einfach nur ein Kürzel für eine Liste all der Dinge ist, die wir über jemanden wissen. Saul Kripke wurde eine revolutionäre Figur in der analytischen Philosophie, indem er das Gegenteil behauptete, sprich dass ein Name eine Möglichkeit ist, auf etwas hinzuweisen, dessen Eigenschaften wir nicht genau kennen. In der Phänomenologie, beginnend mit Husserl, begegnet uns dann die Vorstellung, ein Objekt sei nicht einfach nur ein Bündel von Eigenschaften, denn das Objekt könne zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften auf sich vereinen. Natürlich wusste das schon Aristoteles, aber Aristoteles sprach über reale Objekte in der realen Welt. Husserl hat dies zum ersten Mal anhand von Objekten gezeigt, die lediglich für ein Bewusstsein existieren. Der Apfel kommt also vor irgendwelchen seiner spezifischen Eigenschaften, denn man kann ihn in der Hand drehen, und er kann seine Farbe ändern, während er heranreift und dann verfault; es ist aber immer noch derselbe Apfel. Für mich geht es in der Philosophie insgesamt, nicht nur in der Ästhetik, darum, Keile zwischen Objekte und ihre Eigenschaften zu treiben. In meinem Buch Vierfaches Objekt (2011) versuche ich zu zeigen, dass sich nicht nur Zeit und Raum aus der Spannung zwischen Objekten und ihren Eigenschaften ableiten lassen, sondern auch das, was ich Wesen und eidos nenne. Tatsächlich gibt es eine vierfältige Struktur von Zeit, Raum, Wesen und eidos. Sie alle rühren daher, dass Keile zwischen Objekte und ihre Eigenschaften getrieben wurden. Ein Großteil der Philosophie und der Naturwissenschaft versucht diese Unterscheidung vollständig zu eliminieren und zu behaupten, ein Objekt sei nichts als seine Eigenschaften. Tatsächlich steht die Naturwissenschaft unter erheblichem Druck, das zu tun. Wenn man das Neutron entdeckt, wie James Chadwick dies 1932 tat, hat man zunächst vielleicht nur eine vage Menge von Attributen, und mit der Zeit findet man dann mutmaßlich weitere Dinge über das Neutron heraus. Vielleicht wissen wir jetzt alles, was es über ein Neutron zu wissen gibt, ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es dreißig Fakten über ein Neutron, die einem alles sagen, was man darüber wissen muss. Das ist gute Wissenschaft: das Ersetzen eines Namens durch Eigenschaften. Aber das ist nicht das, was gute Kunst ist. Gute Kunst sollte die Auffassung, wie Eigenschaften zusammenhängen, immer wieder infrage stellen. Je dauerhafter das Kunstwerk ist, desto besser ist es, und daher ist didaktische Kunst normalerweise nicht von Dauer. Es gibt ein paar Ausnahmen, etwa Picassos Guernica (1937). Auch wenn der Spanische Bürgerkrieg heute weniger relevant ist, als er es damals war, und obwohl er in 500 Jahren, wenn sich die Politik verändert hat, weiter an Relevanz eingebüßt haben wird, besitzt dieses Gemälde einen gewissen ästhetischen Wert, der dazu beiträgt, dass es auch seinen didaktischen Wert behalten wird. Minderwertige politische Kunst ist einfach nur minderwertige Kunst. Für mich besteht die ästhetische Zukunft der Philosophie darin, dass man die Unterscheidung zwischen Objekten und ihren Eigenschaften ernst nimmt. Ich möchte diese Idee, dass das Objekt mehr ist als seine Eigenschaften, mehr als seine Bestandteile, auf alle möglichen Gebiete anwenden, nicht nur auf die Kunst. Das ist eine ästhetische Angelegenheit für mich. Ästhetik ist das Gebiet, auf dem dies als erstes offenkundig wird. Die Leute verunglimpfen häufig die Ästhetisierung der Politik, aber sie meinen etwas anderes damit. Sie meinen Nazis, die aus allem eine Parade und billiges Grafikdesign und Propaganda machen. Ich hingegen verstehe unter Ästhetisierung, dass man einen Zugang zu dem Objekt gewinnt, der sich nicht auf dessen Manifestationen beschränkt. In der Geschichte kann man das häufig mit kontrafaktischen Sachverhalten machen. Latours Akteur-Netzwerk-Theorie hat viele Stärken, doch die Bestimmung kontrafaktischer Dinge, die sich ereignet haben könnten, gehört nicht dazu. Er hat eine interessante Geschichte über Louis Pasteur geschrieben und darüber, wie Pasteur die Idee der Mikrobe einführte und strategisch vorgehen musste, um diese und jene Gruppe zu überzeugen. Doch seine Theorie ist weniger gut geeignet, wenn es darum geht, zu zeigen, was Pasteur hätte anders machen können, oder wie Pasteurs Leben verlaufen wäre, wenn er diesen Weg eingeschlagen hätte statt jenem. Das ist einfach keine Stärke der Akteur-Netzwerk-Theorie, die eine Sache auf ihre Wirkungen reduziert. Man könnte dieselbe kontrafaktische Methode auch in den Künsten anwenden. Ich schaue mir häufig Kunstwerke an und frage mich: Wie könnte man dieses Werk ruinieren? Und häufig kann man ein Kunstwerk ruinieren, indem man es zu wörtlich nimmt. Sprache steckt voller Anspielungen und Hinweise und Innuendos, und darum geht es in der Rhetorik. Rhetorik dreht sich häufig darum, Dinge unausgesprochen zu lassen, das wusste schon Aristoteles. Und auch bei der Kunst ist das so. Wir haben den Naturwissenschaften ein Monopol darüber gegeben, wie die Wahrheit aussieht, und das war keine besonders gute Idee. Offensichtlich funktioniert es in der Literatur oder der Kunstgeschichte nicht so gut wie in den Naturwissenschaften, aber es gibt Leute, die heute versuchen, Dinge so zu machen, etwa indem sie Kunst auf die Frage reduzieren, welche Neuronen gerade feuern, wenn man Kunst sieht. Es gibt Leute, die versuchen, Literatur auf Darwinismus zu reduzieren. Sie behaupten, in der Ilias ginge es darum, dass die stärkeren Krieger die schwächeren Krieger töten und dadurch imstande sind, sich fortzupflanzen. Oder dass es bei Jane Austen darum ginge, dass jüngere Frauen sich mit reichen älteren Männern paaren und wir dadurch etwas über die natürliche Auslese erfahren. Doch die Vorstellung, dass in diesen Werken eine versteckte wissenschaftliche Wahrheit steckt, ist einigermaßen albern. Darum geht es weder in der Ilias noch bei Jane Austen. Man muss auf dem Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Wahrheit insistieren. Einige Leute sagen, es sei sehr altmodisch, dass nur die beiden Kulturen der Literatur und der Naturwissenschaft übrig bleiben. Doch dem ist nicht so, denn wir können uns der Taxonomie entledigen. Wir können uns der Idee entledigen, die Naturwissenschaften seien für alle Äußerungen über die Natur zuständig, und die Humanwissenschaften für die über den Menschen. Denn wir können auch über die Natur auf metaphysische Weise sprechen. Und die Naturwissenschaften können sich auch zu menschlichen Angelegenheiten äußern. Und das bedeutet nicht, dass eine Metaphysik der Natur das, was die Naturwissenschaften machen, zu etwas völlig Irrelevantem macht.
TF: In der Ausstellung haben wir es mit einer etwas paradoxen Situation zu tun, denn sie produziert die kleinste Skulptur der Welt, eine molekulare Skulptur. Wir können über diese Skulptur sprechen, aber wir können sie nicht wirklich sehen, denn sie ist zu klein, ein Molekül. Doch der Ausstellungsraum könnte von der Außenseite meines Körpers in sein Inneres wechseln. Ich kann die Skulptur in meinem Blut oder in meinem Körper ausstellen. Dann ist es ein Psychopharmakon. Und dieses Psychopharmakon, das mit der Ästhetik in der ursprünglichen Bedeutung von aísthēsis verwandt ist, verändert meine Wahrnehmung der realen Ausstellung. Dinge in der realen Ausstellung können flüssig, schleimig und weich werden. Das bedeutet, dass man nicht nur zwei Tische hat, den wissenschaftlichen Tisch und den sprachlichen, sondern auch etwas dazwischen. Diese molekulare Skulptur ist beides: Sie ist naturwissenschaftlich, denn sie ist Chemie, aber sie ist auch psychologisch aufgrund der Wirkungen in meinem Körper. Genau diese doppelte Realität erzeugt Fiktionen und Halluzinationen. Das ist paradox. Welche Art von Tisch wäre das? Um ein Werk von Joseph Kosuth zu paraphrasieren: Haben wir „One and Three Tables“ oder verschwindet er in „One and No Table". Handelt es sich um eine verwirrende Mischung von Tischen, um einen neuen Tisch zu machen? Was geht hier vor sich?
GH: Ich glaube, das, was hier vor sich geht, ist, dass Sie die Sache mit dem dritten Tisch beweisen, aber auf eine herausfordernde Weise. Denn der Betrachter kann in einem solchen Fall versucht sein, ihn als das eine oder das andere zu deuten, und zwar fehlzudeuten, wie ich meine. Jemand glaubt vielleicht, Sie würden einfach nur ein chemisches Experiment durchführen. Stellen Sie sich einen Kritiker vor, der sagt: „Das ist keine Kunst, sondern einfach nur ein Chemieexperiment, das sich als Kunst ausgibt.“ Das könnte jemand sagen, oder jemand könnte positiv formulieren, Sie würden eine großartige chemische Vorführung machen. Aber das wäre nicht ganz zutreffend. In welcher chemischen Vorführung gäbe es all diese Röhren, die die verschiedenen Teile der Galerie miteinander verbinden? Ebensowenig würde ein chemisches Experiment Schleim um seiner selbst willen erzeugen. Zunächst einmal ist das Ganze also von begrenzter Funktionalität, denn Sie produzieren nichts, das dann in einer Apotheke verkauft werden soll. Aber was wäre, wenn Sie hier irgendein patentiertes Arzneimittel produzieren und verkaufen würden? Ich kann mir eine solche Ausstellung vorstellen. Es wäre dann vielleicht etwas näher an einer dadaistischen Auslöschung der Grenze zwischen Industrie und Kunst dran. Aber das machen Sie nicht. Sie produzieren auch nicht einfach nur ein Schauspiel, das die Betrachter überwältigt, obwohl es dieses Element auch gibt und die Ausstellung das ebenfalls tut. Leute kommen rein und sagen: „Toll, sowas habe ich in einer Kunstausstellung noch nie gesehen.“ Das war meine erste Reaktion. Aber dann muss man einen Schritt zurückgehen und sich sagen, dass die eigene erste Reaktion nicht unbedingt so wichtig ist. Hier wurde Kunst geschaffen, und es gibt da etwas, das mich herausfordert. Es gibt also einen dritten Tisch zwischen den beiden, denn es wäre eine Menge Arbeit, eine Besprechung Ihrer Ausstellung zu verfassen und herauszufinden, worum genau es Ihnen dabei geht. Und natürlich wissen Sie das möglicherweise gar nicht, das ist ja gerade einer der interessanten Aspekte der Kunst. Das Objekt nimmt ein Eigenleben an, das nicht vom Künstler beherrscht wird.
- Graham Harman, Thomas Feuerstein: The object takes on a life of its own (english)