Mittagsdämon

Aus Daimon

Laster

Hans Baldung Grien, Sieben dämonische Tiere als die sieben Hauptsünden, 1511

Von der Antike bis zum Mittelalter galt die Mittagsstunde im Volksglauben als bevorzugte Zeit, in der Dämonen und Geister erscheinen. Der Begriff "daimonion mesembrinon" findet sich erstmals in der Septuaginta in Psalm 91,6 (in der Einheitsübersetzung: "Seuche, die wütet am Mittag"). In Folge wurde der Mittagsdämon, der sich physisch auf das mittägliche Schlafbedürfnis, die Mittagshitze sowie u.a. auf malariabedingte Fieberanfälle zurückführen lässt, durch Euagrios Pontikos im 4. Jh. n Chr. mit akedia (Trägheit) verbunden. Die eigentliche Gefahr liegt aber im Psychischen, denn insbesondere für alte Mönche und Eremiten galt der Mittagsdämon nach Euagrios als der gefährlichste Dämon. Die akedia nimmt die gesamte Seele in Besitz: man wird schwermütig, hadert mit dem eigenen Leben, öffnet Suizidgedanken und Ersatzbefriedigungen, Süchten und Selbstmitleid die Tür. Nach Euagrios galt der Mittagsdämon als eines der acht Hauptlaster, denen er allen eigene Dämonen zuwies und die später zu den sieben Todsünden wurden. Die sieben Todsünden[1] wurden in der bildenden Kunst seit dem frühen Mittelalter als Dämonen in the­ri­o­morpher Gestalt personifiziert.

Melancholie

Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514

Trägheit und Melancholie standen sich seit der Antike nahe und wurden im Mittelalter etwa bei Hugo St. Viktor synonym verwendet.[2] Die über die hippokratische Medizin und aristotelische Philosophie vermittelte Melancholie, die sich in ihren Symptomen in Form von Lethargie und Schwermut zeigt, wurde zur Zeit des Euagrios von den Kirchenvätern Hieronymus und Johannes Chrysostomos mit akedia verbunden. Während der Dämon der Melancholie im Mittelalter für Laster wie Faulheit stand, beginnt die Melancholie ab der Renaissance in Philosophie, Literatur und Kunst für Kontemplation, Vergänglichkeit und Einsamkeit zu stehen. In der Renaissance erfährt die Melancholie eine neuplatonische Uminterpretation und wird zur "Melancholie artificialis", die nicht Ausdruck einer lasterhaften Depression, sondern eines künstlerischen Genies ist. Albrecht Dürer verbildlichte diesen humanistischen Wandel in seinem Stich Melencolia I, wo ein kleiner Dämon das Spruchband trägt, während die von einer weiblichen Gestalt personifizierte Melancholie sich mit Geometrie und Wissenschaft, der Vermessung von Natur und Welt beschäftigt.[3] Über Zeitkrankheiten wie Depression und Burnout erfährt der Mittagsdämon gegenwärtig neue Beachtung. Der US-amerikanische Psychiater Andrew Solomon veröffentliche eine umfangreiche Studie über Depression mit dem Titel The Noonday Demon.[4]

Einzelnachweise

  1. Die sieben von Dämonen personifizierten Todsünden lauten superbia (Hoffart, Stolz), avaritia (Geiz, Habsucht), invidia (Neid), ira (Zorn), luxuria (Unkeuschheit, Wollust), gula (Unmäßigkeit, Völlerei, Freßsucht), acedia (Trägheit, Überdruss).
  2. Vgl. Hugo von St. Viktor, Über die Meditation (Sources Chrétiennes 155), Paris 1969.
  3. Vgl. Johann Konrad Eberlein, Albrecht Dürer, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 119.
  4. Andrew Solomon, The Noonday Demon. An Atlas of Depression, New York 2001.


Literatur und Weblink

Hartmut Böhme, "Zur literarischen Wirkungsgeschichte von Dürers Kupferstich 'Melencolia I'", in: Jörg Schönert und Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Festschrift Karl Robert Mandelkow, Frankfurt a. Main 1988, S. 83–123.