VERBALE

Aus Daimon

Thomas Feuerstein


VERBALE: DÄMON DER ZUNGE

Thomas Feuerstein, Verbale. Daimon of Tongue, Tinte auf Papier, 40 x 30 cm, 2007

Nichts Neues unter der strahlenden Sonne des Identischen. Logische Redundanzen, mechanische Gleichgewichte, genetische Invarianten, materielle Stabilitäten. Wie glücklich waren wir, als unsere Probleme noch nicht gelöst waren. Die Glasfassaden spiegeln im Abendrot und lassen die Sonne im Osten untergehen. Vom dreißigsten Stockwerk funkeln die Nobelkarossen wie Chitinpanzer kleiner Mistkäfer, die in einem See heißer Abgase über den flimmernden Asphalt kriechen. Zeit aufzubrechen und die Sprachmaschine anzuwerfen. Noch ein Schluck Glenmorangie für eine schnelle Zunge und ab ins Getümmel. Vorbei an Maxwell, dem Türsteher zum sozialen Jenseits, weitere vierzehn Stockwerke Richtung Himmel und leises Gemurmel mischt sich in „Demons are forever“. Quantenerotik liegt in der Luft und stimuliert das distinkte Chaos menschlicher Teilchen im Raum. Es ist einer der Abende, an dem kleinste Unterschiede in den Anfangsbedingungen zu abweichenden Verhaltensweisen führen. Die Wörter springen wie Quanten zwischen den Menschen umher und destabilisieren die soziale Determiniertheit neuronaler Prozesse. Sätze zerfallen Radiumatomen gleich in fipsige Sinnteilchen und verbinden sich zu unbestimmten Ereignissen. Die Sprache entkoppelt sich von ihren Sprechern und semantische Viren erfüllen den Raum. Auf feinen sphärischen Tröpfchen reisen die Lingonellen als Erreger der Langage-Diarrhö durch die Darmwege, dringen ins Gehirn und befallen das Broca-Areal. Im Volksmund als Verbale bekannt, äußert sich ihr markantestes Symptom im unwiderstehlichen Drang, bei jeder Gelegenheit einen Schwall Worte von sich zu geben. Mitten in einer arglosen Konversation mischt sich der Dämon in die Rede und übernimmt das Kommando der Wortkolonnen. Besonders Schnellredner und trickreiche Zungenakrobaten sind davon betroffen, was nach dem ersten Erscheinen der Krankheit einige Skandale zur Folge hatte. An die zyklisch auftretenden Epidemien hat man sich inzwischen gewöhnt, aber das Tückische liegt in der Dissoziation der Person, in der bohrenden Frage, die sich auch die Gesunden stellen: Wer oder was spricht denn hier? Einige neoexpressive Subversivliteraten versuchten nach Überraschungserfolgen von der Krankheit nachhaltig zu profitieren und züchteten eine chronische Verbale, die ihre Gesundheit ruinierte und den Körper bis zur Unkenntlichkeit aufschwemmte.

Bereits in der Geschichte mutmaßten Gelehrte, dass obgleich die Sprache dem Menschen innerlich ist, sie ein unabhängiges, äußeres, gegen den Menschen selbst Gewalt ausübendes Dasein hat. Der Mensch spricht nicht nur, er wird auch von der Sprache gesprochen oder wie ein Meisterdenker schrieb – und nicht sagte –, meistert der Mensch nur vordergründig die Sprachmaschine. In Wahrheit nimmt die Sprachmaschine die Sprache in Betrieb und steuert das Wesen des Menschen. Philosophen wussten von der Existenz der Lingonellen, lange bevor Mediziner und Biotechnologen sie entdeckten. Bei den Katholiken hießen die Erreger Heiliger Geist, zuvor Heilige Krankheit und Sokrates nannte sie Daimonion. Eine uralte Plage, die der entropische Metaphysiker Philipp Mainländer Denkseuche nannte. Das Penthouse füllt sich weiter mit Kunstsammlern aus Übersee, aufgespritzten Starlets, It-Girls und Szenekünstlern. Chinesische Investoren stapeln die Teller mit Hummerschwänzen, Roastbeef und Sahnetorten voll und schaufeln alles mit schnellen, bäuerlichen Gesten in sich hinein. Deutsche Kritiker sind guter Laune, kauen an faustgroßen Filetsteaks und trinken kalifornischen Cabernet Sauvignon. Eine Gruppe Italiener und Franzosen genießt eine Flasche Brunello und schaut gelangweilt auf die lebensgroßen Pferde aus Gold, die auf der Brüstung der Terrasse in den Nachthimmel galoppieren. Als die Band einen Punksong intoniert, steigt das Fieber und die verbale Stimmung ergreift die Körper der Musiker. Sie reden mit allen Gliedern, schütteln sich und spucken ihre Namen mit Blut auf die Bühne.

Der Song brennt sich wie ein semantischer Wurm durch die Gedärme und ein unwiderstehlicher Zwang saugt in das tiefe Loch eines unvermeidlichen Nichts, aus dem sich die Leere der Existenz schöpft. Keine Kontingenz der Worte vermag zu retten, kein metaphysisches Opium übertönt die neuronale Koprophilie, keine Konfabulationsmaschine ist stark genug, dem Irrsal zu entrinnen. Der Geist ist nicht besessen, er ist das Produkt der Besessenheit, der nach den Energien großer Genien dürstet, ein belletristischer Fluch, dessen Lektüre das Grauen endlich werden lässt. Die Menschen verdanken der Verbale die Einsicht, dass sie neben der Sprache, ihrem Empfinden und ihren Bedürfnissen stehen. Sie begreifen sich als virtuelle Spielfiguren, die in Warteschleifen lungern und der endlosen Penetrationen des Dämons harren. Die Verbale ist Schicksal, mit dem man sich anfreundet oder zugrunde geht. Das Unausgesprochene trennte die Menschen, das Ausgesprochene bringt sie nun um und verbindet sie in der Sehnsucht nach den letzten Dingen, für die die Worte fehlen.

Immer mehr Menschen strömen in die Räume. Auf der Terrasse kriechen junge Körper am Boden und treiben tellurische Spiele, während ihre emporgereckten Hintern das Mondlicht spiegeln. An der Bar sprudeln Worte aus leblosen Figuren, bis sie in der Einsamkeit erstarren. Ein paar Intellektuelle versuchen die Worte zu verdrehen und in Tropen zu sprechen. Der Umlauf der Silben verbiegt ihre Körper zu rätselhaften Hieroglyphen. Sie glauben an den Sinn der Sprache und ihre verborgene topologische Ordnung. Sie leiden an Metalepsis und aus ihren verbalen Verschiebungen erwachsen rhetorische Kaskaden, Metonymien, Katachresen, Synekdochen und Antonomasien. Daneben steht schickes Kunstpublikum. Man erkennt es an den Menstruationsstreifen ihrer Schuhe. Sie fühlen sich elitär, sind stilsicher und reich. Sie hassen globale Konzerne und Marken, zumindest die billigen, die die Massen versorgen, geben sich kritisch, links, diskursiv, aufgeklärt. Sie tragen Kleidung von Prada, verwechseln Leben mit Lifestyle, Kunst mit Accessoire. Zusammen mit einer Horde Neophyten lauschen sie den Worten von Perdurabo, einem Künstler, der keinen gewöhnlichen Stoffwechsel, sondern einen Metadiabolismus besitzt. Er beschwört die Pfirsiche des ewigen Lebens und die Pforten der Welt, die sich hinter dem Schleier der Materie öffnen. Er verwandelt sich beständig, hat Hunderte Namen, heißt Graf Vladimir Svareff, Lord Middlesex, Prinz Chioa Khan, Baphomet, Paramahansa. Er fegt jedes Tabu zur Seite und akzeptiert keine gesellschaftlichen Axiome. Er verabscheut es, in der eigenen Haut zu leben, die ihm zu groß und von Leberflecken übersät ist. Seine Anhänger nennen ihn Haschpapi, seine Geliebten bezeichnen ihn als Sisyphos der Lüste. Er ist durch und durch Skatologe und seine Bilder sind Paradiesmaschinen schmutziger Phantasien.

Einzig ein paar minimalistische Künstler bleiben wortkarg. Sie sagen, dass sie nichts aussagen wollen, sie erzählen, dass es nichts zu erzählen gibt, sie bedeuten unentwegt, dass es keine Bedeutung gibt. Sie sind moderne Fundamentalisten der Form, huldigen dem Stop making sense und teilen die Welt dualistisch, indem sie sich auf die Seite der mythischen Anti-Narration schlagen und sich im Loch der Immanenz verkriechen. Sie sind Bauchredner und denken mit ihren Gedärmen. Sie sind Fleisch und Medium für den langen Wurm der endlosen Wiederholungen, der die Welt seit ewigen Zeiten klont.

Du nimmst die Dinge fest in die Hand und plötzlich drehen sie sich wie ein Bohrstößel und kugeln dir den Arm aus der Schulter. Die Dinge wehren sich und beginnen zu revoltieren. Das ist der Aufstand der Sprache in den Dingen. Von nun an ist es Gewissheit, die Sprache steckt in jedem Detail, in jeder Rille und kontrolliert die Welt. Die Menschen haben ihrem Diktat zu gehorchen. Jeder Versuch, das Gesagte zu erklären oder mit Handlungen in Einklang zu bringen, verstrickt in endlose Geschichten. Die Sprachmaschine ist eine Konfabulationsmaschine, die immer tiefer in das Jenseits des Sinns führt. Die Lücken zwischen den Dingen werden mit Worten gefüllt, bis sie in ihren nicht versiegenden Wellenbewegungen den Sinn still stellen. Die Worte befolgen nicht die alte Ökonomie der Sprache, sie bilden einen ektoplastischen Speichelstrom, der wie Wildwasser die Dinge formt. Sie infizieren Materie, ihre Seme verschmelzen mit Quarks und bauen mit jedem Satz Polymerketten. Das ist das Elend und Fest der Signifikanten, der Dammbruch zwischen der Sprache und den Dingen. Die Verbale bringt ihre eigene Wirklichkeit hervor, deren lebendige Elemente das Unvorhergesehene beschwören. Das ist der autonome Zustand der Sprache, voller Bezüge zur Außenwelt, aber ohne solche zur Innenwelt. Die Suche nach den Zusammenhängen kommt an ihr Ende. Das Netz der Worte und der Dinge schmilzt in einem einzigen Punkt systemischer Existenz. Die Dichtung lebte von der Sprachvernichtung durch die Sprache, vom Mangel der Worte, der die Dinge sagbar macht. Die Verbale rächt die Sprache. Sie ertränkt die Menschen in ihrer Sinnsuche.