Fetisch

Aus Daimon

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Kolonialgeschichte

Nagelfetisch (nkisi n'kondi), Shiloango, Kongo, ca. 1875-1900, Detroit Institute of Arts, Detroit

Der Begriff Fetisch ist eng mit der portugiesischen Kolonialgeschichte Afrikas verbunden, die ab 1470 ihren Ausgang nahm. Aus der Begegnung zwischen Portugiesen und westafrikanischen Stämmen ging das pidgin-word fetisso hervor, das im Sinne von Idol oder Götzenbild gebraucht wurde. Ihm zugrunde liegt lat. facitus, "das Hergestellte", weshalb das Wort nur für künstlich hergestellte Dinge gebraucht wurde. Im Laufe des 16. Jhs. bildeten sich im Spanischen die Wörter fechizo für "magisches Objekt" oder fechicero für "Magier". Im Anschluss daran verbreitete sich das Wort im Laufe des 18. Jhs. über ganz Europa.

In West- und Zentalafrika, wo Fetische Nkisi, Grigri, Juju etc. genannt werden, können nicht nur kunsthandwerklich hergestellte Gegenstände, sondern auch Holzklötze, Steine, Metallstücke oder Knochen fetischisiert werden. Je wertvoller die Materialien - in bestimmten kultischen Traditionen auch Menschenblut, Herzen oder Köpfe -, desto wirksamer der Fetisch, der vor Unglück aller Art, insbesondere vor gefährlichen Totenseelen und Dämonen schützen soll. Durch rituelle Opferungen und Zeremonien wird der Fetisch mit übernatürlichen Kräften aufgeladen und ein übernatürliches Wesen hält Einzug, das ab nun im Fetisch wohnt; es spricht aus ihm, fordert Opfer, warnt seinen Besitzer und steht ihm in allen Lebenslagen hilfreich zur Seite. Einen Widersacher kann der Fetisch verfolgen, mit Krankheit und Unglück strafen oder sogar töten.

Vom portugiesischen Einfluss auf westafrikanische Stammeskulturen zeugen Nagelfetische, die vermutlich auf eine synkretistische Aufnahme christlicher Idolen- und Reliquienverehrung zurückgehen. Missionare bekämpften die "heidnischen" Fetische mit ihren eigenen, wodurch zusammen mit Nägeln und Metallteilen fremde Bildvorstellungen wie die des Schmerzensmannes vordrangen. Die Fetische der "Weißen" befruchteten eine neue Tradition der rituellen Verwendung, bei der - vergleichbar der Kreuzigungsdarstellung - durch das Einschlagen eines Nagels der innewohnende Geist gereizt und ermuntert wird, eine Person zu bestrafen. "Soll Diebstahl, Hexenwerk, Treubruch gerächt, ein hartnäckiger Schuldner zum Zahlen, ein Trunkenbold zur Mässigkeit, eine Vertrauensperson im voraus zur Ehrlichkeit gezwungen werden, so gilt es in den südlichen Teilen des Landes für sehr dienlich, zum Schluss der Beschwörung einen Nagel in den Fetisch zu schlagen, falls er in Menschengestalt aus Holz geschnitzt ist."[1] Der mit dem eingeschlagenen Nagel verbundene Fluch kann nur durch Wiedergutmachung, Reue oder aufwendige Gegenmaßnahmen neutralisiert oder rückgängig gemacht werden. Der Fetisch erfüllt die juridische Funktion eines Vertrages, dessen Bruch an Sanktionen gebunden ist. Je nach Vertragsgegenstand und seines symbolischen oder ökonomischen Wertes wird mit dem Versenken des Nagels die drohende Strafe eingeschrieben. Der Fetisch überwacht und regelt ein komplexes System der Ordnung und dient der Handlungssteuerung und Disziplinierung von Individuen innerhalb der Gemeinschaft.

Technische Fetische

Die Herstellung von Fetischen ist mit bestimmten Wissensformen verbunden, durch die Experten einen Dämon oder Geist, eine Macht oder Kraft in einen Gegenstand einpflanzen und materiell binden. Das Objekt ist die Hülle, in der das Wesen haust. Der Fetisch ist nicht einfaches Werkzeug wie ein Hammer, dessen Form auf seine Funktion schließen lässt. Seine Komplexität liegt im Inneren vergleichbar einem technischen Apparat , etwa einem Kompass, der aus Sicht westafrikanischer Stämme als Fetisch der Europäer betrachtet wurde. Die Geschichte des Wortes Fetisch erzählt vom Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Wahrnehmungen, bei denen die jeweils andere Seite des Fetischismus verdächtigt wurde. Während in den afrikanischen Fetischen für die Europäer heidnische Dämonen hausten, die es missionarisch zu vertreiben galt, wohnten für die Afrikaner technische Dämonen in den Geräten der Europäer. Lässt man das differente Verhältnis zwischen magischem Weltbild und naturwissenschaftlichen Kausalitätsverständnis beiseite, ist beiden das Strukturprinzip des Fetischismus gemeinsam, das Abwesende anwesend zu machen und über seine Wirkung zu verfügen. Diese Strukturgleichheit findet sich bis heute bei westafrikanischen Fetischen, die beispielsweise Telefonapparate integrieren, um eine Verbindung mit Geistern und Ahnen herzustellen. Fetische sind dieser Interpretation nach Medientechnologien zur Übertragung von Information und Energie, was durch ihre Attributierung mit "Antennen" in Form von Federn, Hörnern oder Spiegeln, die Kräfte vergleichbar einem Radiosender zentral aus dem Dorfzentrum auszustrahlen scheinen, evoziert wird: Handliche Taschen-Fetische bieten auf der Empfängerseite wie portable Transistorradios dem Träger die Gewissheit des Angeschlossenseins an die dörfliche Gemeinschaft und den Schutz der Ahnen.

Warenfetisch

Im marxschen Warenfetischismus entwickeln die Produkte unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweisen ein Eigenleben und eine Zauberkraft, die ansonsten nur archaischen Fetischskulpturen zugesprochen werden. Die Menschen werden von den Dingen beherrscht oder wie Marx schreibt: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren.“[2] War bei Marx der Arbeiter das Objekt und die Ware das Subjekt und ging daraus die perverse „Verwechslung“ hervor, die die Entfremdung auslöst, entspricht das Wesen des Konsumismus einem Dämon, der im Konsumenten wohnt. Die Ware entfremdet den Konsumenten nicht wie einst den Arbeiter, sondern ist im Gegenteil sein Antrieb und Identitätsversprechen. Sie verleiht der Ökonomie Energie und motiviert immer mehr Menschen, sich zu optimieren und in den Arbeitsprozess zu integrieren. Im Konsumismus wird die Ware zum Daimonion des Konsumenten und erinnert an den Dämon des Sokrates, der sich als innere Stimme unaufgefordert meldet und weit über der Vernunft rangiert. Die Parallele zu Marx liegt im Umstand, dass die Handlungen als innewohnende Notwendigkeiten erscheinen und sich die Verhältnisse als von Menschen gemachte invisibilisieren. Gegenwärtig wird dies als Umstieg von menschlichen auf systemische Prozesse erfahren und ähnlich missbraucht wie in Frühzeiten des Kapitalismus.

Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren und sich die Klassen des Prekariats und der so genannten Entbehrlichen herausbilden, ist das ein Indiz, dass der neue Fetisch „System“ heißt. Das System zieht scheinbar die Fäden hinter den Rücken der Menschen und entkoppelt sich von ihren Bedürfnissen. Im System lebt ein in der Moderne verdrängter Animismus und wird zum Garanten für die Steuerung komplexer, die menschliche Vernunft übersteigender Zusammenhänge. Der systemische Fetischismus ermöglicht wie im magischen Weltbild eine Delegation von Verantwortung sowie Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse an eine höhere Macht. Das System wird schicksalhaft und göttlich, denn das soziale Übel hat weder ein Gesicht noch eine Adresse. In dieser vertrackten mythischen Situation des Konsumismus können sich nur schwer kritische oder klassenkämpferische Fronten bilden, denn die Grenze des Systems läuft quer durch das eigene Selbst. Die soziale Klasse, der schlechte Job, die dürftige Ernährung, die mangelhafte Bildung, die verschmutzte Umwelt, all das ist Schicksal, für das man selbst verantwortlich ist. Die Botschaft lautet: Wir können gegen nichts aufbegehren, nur gegen unser eigenes Unvermögen.

Einzelnachweise

  1. Eduard Pechuël-Loesche, Die Loango-Expedition, Stuttgart 1907, S. 393.
  2. Karl Marx, Das Kapital, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1972, S. 89.


Literatur

Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur, Reinbek bei Hamburg 2006.