Wenn sich Dämonen, Destillate, Algorithmen und Algen zum Symposium versammeln
Aus Daimon
Wenn sich Dämonen, Destillate, Algorithmen und Algen zum Symposium versammeln
Zur Kunst von Thomas Feuerstein
Thomas Feuersteins Projekte ähneln den großen Narrativen früherer Zeit, welche Fragen über den Status Quo unserer Welt und unserer Existenz als Spielfläche multipler Relationen anbietet, die über die gesamte Palette sozialer, gesellschaftlicher, technologischer und ökonomischer Themen reichen. Dies entsteht nicht aus einer genieverhafteten Hybris von Welterklärung, sondern aus der Erkenntnis, dass nicht in den Dingen für sich, sondern in ihren Zusammenhängen unsere Welt sichtbar, aber auch wandelbar wird. Um diese komplexe Verschränkung ins Bild zu rücken, bedient sich Feuerstein einer medial breiten künstlerischen Sprache, die von Skulpturen, Plakaten, Zeichnungen über Malereien, Fotografien und Textarbeiten bis zu Installationen und Netzkunstwerken reicht. Er thematisiert darin die Kunst selbst als epistemisches System der Interpretation, worunter eine Neuschaffung von Sprachspielen aus Fakten und Fiktionen verstanden werden kann. Die Kunst Feuersteins ist ein Schaffen über die Objekte hinaus, mit ihnen und durch sie hindurch. Sie stellt ein Laboratorium dar, das nicht in sich nach Lösungen sucht. Es bezieht sein Publikum unmittelbar mit ein, öffnet Labore der „Produktion von Welt,“ in dem die BetrachterInnen eingeladen sind, ihre eigenen Konfigurationen spielerisch zu entwerfen.
Die auf wissenschaftliche Komplexität rekurrierenden großen Installationen von Feuerstein sind somit keineswegs hermetisch geschlossene Transkriptionen wissenschaftlicher Experimente. Sie sind Übersetzungen, die sich weniger dem Versuch verdanken, Wissenschaft in Kunst zu überführen, sondern im Gegenteil den Produktions- und Erfahrungshorizont von Kunst ausdehnen. Sie sind stets mit anderen Arbeiten zu „Weltsystemen“ verbunden, welche die einzelnen Arbeiten in ein erweitertes, vielgestaltiges narratives System einbetten. In Some Velvet Mourning beispielsweise inszenierte Feuerstein in seiner Ausstellung Anfang des Jahres in der Elisabeth & Klaus Thoman Galerie, Innsbruck, das historische biochemische „Ursuppen-Experiment“ von Miller und Urey von 1953, in dem die Forscher erfolgreich jene Vorgänge simulierten, wie Leben auf der Erde entstanden sein könnte. Where Deathless Horses Weep ist eine Pferdeskulptur aus dem 19. Jahrhundert, die Feuerstein tiefgekühlt hat, um die Atemluft der BesucherInnen aufzufangen, zu gefrieren und wieder in Wasser zu verwandeln. Die Skulptur mutiert zum Kondensator, von dem aus die Flüssigkeit in eine Destillationsmaschine gelangt, der wir eben noch als Re-Enactment eines wissenschaftlichen Experiments begegnet waren, Some Velvet Mourning. Astrid Mania beschreibt diese Verknüpfung in ihrem Text „Schöpferisches Besaufen“: „ Am Anfang war nicht das Wort, sondern der Hauch. Und der wird der Materie eingeblasen. Und plötzlich ist überall Schöpfung.“[1] Aber hier endet die Weltmaschine nicht, der Kreislauf ist noch nicht vollendet, er muss sich noch zurückspielen in die Besucher, um der Rekursivität von Welt gerecht zu werden. Und da es sich bei Some Velvet Mourning um eine Destillationsmaschine handelt, die hier nicht die Hypothese einer Ursuppe experimentell beweisen muss, indem sie Aminosäuren produziert, erzeugt sie einen anderen „Beweis“: Eine handfestere, wenn auch geistige Form der Überzeugung. Das Resultat ist ein Destillat, und zwar Schnaps, der ausgesprochen geeignet ist, die Kommunikation während der Ausstellung zu beleben. Dass dies kein Geschenk ganz uneigennütziger Art ist, beweist sich wiederum darin, dass damit der „Kunstbetrieb“ am laufen gehalten wird. Ein wohl für viele Besucher erfreuliches Beispiel angewandter Relationalität. Außerdem mündet dieses das Publikum freiwillig oder auch unfreiwillig anzapfende Experiment in einer entsprechenden Sammlung von Flaschen, die in einer beleuchteten Vitrine zur Schau gestellt sind. Dem Geist der Kunst verpflichtet, haben wir es nicht nur mit diversen hochprozentigen Getränken zu tun, die den Flaschen zum Schmuck gereichen. Es sind Kunstwerke, deren Etiketten Bezüge und Assoziationen anbieten, die wiederum über die Geschichte der Kunst hinausweisen. Die Qualität von Feuersteins Kunst liegt gerade in diesem Zusammenspiel: Auf den ersten Blick überzeugen die einzelnen Arbeiten in ihrer künstlerischen Qualität. Bei näherer Betrachtung eröffnen sich zusätzlich Bezüge, in welchen jedes Werk eine Rolle spielt, woraus sich facettenreiche und überraschende Beziehungen eröffnen.
Dass wir es mit Bildwelten zu tun haben, die sich innerhalb unterschiedlicher Systeme, unter welchen die Kunst nur eines von vielen ist, eingenistet haben, zeigt exemplarisch Feuersteins vielschichtige Verwendung des Begriffs Dämon. Hier wird jedoch nicht der christliche und später romantische (böse) Geist einer transzendenten Wesenheit beschworen, die Umdeutung eines heidnischen Symbols in eine verbotene „Virtualität“ des Denkens. Im alten Griechenland waren Daimonen Wesen zwischen Göttern und Menschen, die sich der Menschen annahmen, wobei auch dies auf eine weiter zurückliegende Bedeutung weist – und ein wenig klingt dies in der späteren Verwendung nach: „Daimones“ nannte man im Goldenen Zeitalter der Griechen die Seelen der Toten. Der Daemon, der Feuersteins künstlerische Arbeiten durchzieht, ist aber jene Verkörperung, die den Maxwell’schen Dämon genauso bezeichnet wie den Daemon der Systemdienste im Computer, die im Hintergrund laufen oder den Daemon als Algorithmus, der Handlungsvorschriften zur Problemlösung anbietet, aber auch jenen Daimon, den Sokrates seinen inneren Helfer nannte. Der Dämon tritt in vielgestaltigen Formen als Zu- und Verteiler von Molekülen, Energie, Information oder Schicksal auf. Er ist selbst ein fiktionales Narrativ, das ins Reale hineinwirkt, eine Verkörperung des Virtuellen als Potential des Realen.
Im Gegensatz zu Sokrates ist Feuerstein Künstler (was keine vordergründige Banalität darstellt, denn von Sokrates heißt es, dass er zuerst Bildhauer war und erst durch die Unterstützung Kritons sich der Philosophie widmete), der seine Form eines strukturierten, dabei kontingenten Dialogs in einem Symposium mit Daemonen, Bots, Algorithmen, Algen, Pilzen oder Destillaten führt. Ohne den Vergleich zu weit treiben zu wollen, ist er „Hebamme“ eines künstlerischen Gesprächs (Sokrates Begriff für seine Form der Philosophie, die Mäeutik, bedeutet „Hebammenkunst“) mit Partnern, die nicht mehr (nur) unter Menschen angesiedelt sind, sondern im Sinne Bruno Latours unter „Dingen“. Es ist eine „Biophilie“, um einen Ausdruck aus der reichen Begrifflichkeit Feuersteins zu übernehmen, in der tote wie lebende Materie zu Kunst erweckt wird, indem sie in die Lebendigkeit einer komplex verästelten Erfahrungs- und Erlebniswelt, einer „prozessualen Poesie“ integriert wird. In der Ausstellung „Planet Paradies“ in der Galerie Strickner, Wien, 2009, baute Feuerstein eine Manna-Maschine auf, wie sie zur Zeit auch in der Ausstellung „Eating the Universe" in der Galerie im Taxispalais in Innsbruck zu sehen ist. Lange transparente Schläuche durchzogen den gesamten Galerieraum, durch den eine Umwälzpumpe Flüssigkeit mit Schwebealgen trieb. Durch einen Bioreaktor wurde die natürliche Photosynthese unterstützt und die anfangs durchsichtige Flüssigkeit im Laufe der Ausstellungsdauer durch die Vermehrung der Algen zusehends grün. Feuerstein schaffte damit als Teil der Ausstellung Materialien für weitere Arbeiten – das Pigment seines Bilderzyklus Ernte wurde aus den Algen hergestellt und damit zur Malfarbe für abstrakte monochrome Bilder, die in der Ausstellung zu sehen waren. Aber auch Getränke wie Tono-Bungay (ein „Tonic of Consumption for Tricksters & Cybernetists“) oder Nahrung für Drosophila Fliegen (die dann zu Bildpunkten für Portraits von Personen werden, die sich auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Verhältnis zwischen Singularität und Sozietät beschäftigen) gewinnt Feuerstein aus den Algen – die als vielfältige Ressource der Zukunft gelten und sich etwa in Japan bereits als verjüngendes Getränk großer Beliebtheit erfreuen. Feuerstein bezeichnet dies als „konzeptuelle Narration, die Konfabulationen provoziert, die anstatt kausal und dual, myzelhaft agieren.“ Die Arbeiten sind biologischen Prozessen vergleichbar, die in ständigem Austausch mit ihrer Umgebung kommunizieren. Die BetrachterIn der Werke von Feuerstein wird – um in der Sprache der Biologie zu bleiben – zum Enzym, das in seiner persönlichen Konfabulation die Informationen aufspaltet, um den Prozessen nachzuspüren.
In der Installation Manifest, die ab 8. Juni im Kunstraum Bernsteiner in Wien zu sehen sein wird (der mit dieser Ausstellung eröffnet), fährt eine überlebensgroße Hand wie von Zauberhand bewegt über die Wand und hinterlässt Spuren eines Kohlestifts. Die endlose Linie wird von Börsenkursen großer Rückversicherer wie Swiss Re oder des internationalen Versicherungsmarktes Lloyd’s of London, der bereits koloniale Expeditionen versicherte, gezeichnet. Assoziationen zur unsichtbaren Hand Adam Smiths tauchen auf oder zu einer Künstlerhand, die Kopf und Körper verloren hat. Mythisches trifft auf Rationalität und die écriture automatique der Surrealisten. Die aus der „Performance“ der Versicherungsgesellschaft in Echtzeit gewonnenen Daten fließen in einen Computerserver in Gestalt eines Containerschiffs – Allegorie der Reise, der Güter- und Wohlstandsverteilung, der globalen Ordnung einer kolonialen Ökonomie – von wo sie als Steuerdaten die Hand bewegen. Dieses Schiff, das den „Namen“ Daimonia trägt, ist der Verteiler, der Bote, der die Information kommuniziert. Es versinnbildlicht den Übergang vom Schicksalsengel als Boten zur Ökonomie als jenem Daemon, der die heutige Welt ordnet oder ins Chaos stürzt, und somit heute über unser Schicksal herrscht. Der Kosmos eines Transits von Bedeutungen und Paradigmen, von Sinn und Wert entfaltet sich in einer Plakatwand, in Zeichnungen, die Bezüge und Referenzen, Imaginiertes wie Geschichtliches in eine Erzählung münden lassen, welche die erratisch Wert erzeugenden Volatilitäten der Börsen konterkarieren. Karin Knorr-Cetina und Alex Preda sprechen in Bezug auf das Finanzsystem vom Übergang von einer netzwerkbasierten Architektur à la Castells hin zu einem skopischen Modus der Koordination, in dem die fließenden Märkte metastabil sind, also stabil sind, indem sie im Moment Transaktionen erlauben und sich mit diesen Transaktionen wieder verändern. Sie schreiben dazu: „Ein skopisches System [...] kann als System der Beobachtung und Projektion definiert werden, das auf einer Oberfläche verteilte und unterschiedliche Aktivitäten, Interpretationen und Repräsentationen versammelt, die [...] die Reaktion des Publikums ausrichten und beschränken.“[2] Feuersteins Kunst als skopisches System betrachtet, schränkt das Publikum nicht ein, sondern gibt ihm die Aktivitäten, Interpretationen und Repräsentationen zur Hand, um neue Kreise und Potentiale zu bilden. In dieser Hinsicht ist seine Kunst partizipativ, da sie die Beteiligung seines Publikums herausfordert, von den einzelnen Werken zu Beziehungsgeflechten, zu „Myzelen“ zu schreiten. Die Vielgestaltigkeit dieser Erscheinungen ist eines der prozessualen Stilmittel Feuersteins, durch die er seine Kompositionen entwirft. Seine Werke sind selbst „daimonisch“, sie schreiben sich in andere Systeme ein und lesen sie aus. Um es mit einem Ausdruck der Systemtheorie zu beschreiben, handelt es sich bei Feuersteins Werken um Relationalitäten, um Geflechte komplexer Beziehungen, die unsere Welt heute durchweben. Seine Myzele aus Sinnzusammenhängen unterstellen den Erscheinungen der realen Welt nicht nur symbolische Gemeinsamkeiten, sondern machen kontingente Realitäten unterhalb der Oberfläche der scheinbar offensichtlichen Bedeutungen zugänglich. So gesehen handelt es sich nicht um metaphorische Gestaltungen. Feuersteins Kunst mäandert durch Bedeutungsebenen, auch wenn beispielsweise ein streng wissenschaftliches Experiment wie jenes von Miller und Urey den konkreten Bauplan liefert. Es sind Optionen, die sich in der Betrachtung eröffnen und diversifizierte, mannigfaltige Lesarten erlauben.
Die Komplexität wissenschaftlicher Experimente und Theorien werden in seinen Arbeiten zu spielerischen, nachvollziehbaren Poetiken, die ihr „Sprechen“ immer wieder selbst unterbrechen, um gegen eine quantifizierende Exegese epistemische Momente zu stellen. Wie Astrid Mania in ihrem oben erwähnten Beitrag schreibt, „[kondensiert d]as Sprechen [...] über Kunst an Kunst und führt zu Kunst. Es ist eine Art betriebsinterner Zirkelschluss, zu dessen Verbildlichung sich die beiden Laborversuche hervorragend eignen, denn auch hier zündet es nur, wenn die entsprechenden stofflichen Substanzen und chemischen Voraussetzungen gegeben sind.“[3] Das hier auch eine ordentliche Portion Ironie einfließt, ist nicht zu übersehen. Feuerstein operiert nicht nur mit Trickstern, er ist selbst einer. Diese Ironie ist aber kein Spott, keine oberflächliche Hinwegsetzung und kein billiger Trick. Sie ist als Joker gerade jener Aspekt des Spielerischen, welcher der Kunst Feuersteins die Spitze einer allzu trockenen Theoriekunst nimmt, sie zu einer flüssigen Angelegenheit werden lässt, an der man sich, mit Astrid Mania, mit Gewinn „besaufen“ kann. Es wäre ein wahrhaft daemonisches Vergnügen, wenn mehr derart Betrunkene unsere Ausstellungen bevölkern würden.
Einzelnachweise
- ↑ Astrid Mania, Schöpferisches Besaufen
- ↑ Karin Knorr Cetina und Alex Preda, „The Temporalisation of Financial Markets: From Network to Flow”, Theory, Culture & Society, 2007, Vol. 24(7-8). Überetzung des Zitats durch den Autor
- ↑ Astrid Mania, a.a.O.