Bentham'scher Dämon
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Inhaltsverzeichnis
Panopticon
Die vom britischen Philosophen und Juristen Jeremy Bentham (1748–1832) Ende des 18. Jhs. vorgeschlagene Gefängnisreform beinhaltete ein Idealgebäude für eine Strafvollzugsanstalt, das Panopticon. Die Architektur des Panopticons (griech. pan alles, optikós zum Schauen gehörend) ermöglicht von einem zentralen Ort aus alle Häftlinge - in Folge auch Fabrikarbeiter - zu beaufsichtigen. Im Zentrum steht ein Beobachtungsturm, von welchem in Strahlenbauweise Zellentrakte ausgehen. Der Wärter in der Mitte kann in die Zellen einsehen, ohne dass die Insassen den Wärter sehen. Mit geringem personellem Aufwand wird die Überwachung und Kontrolle einer großen Anzahl von Menschen erzielt: "A building circular... The prisoners in their cells, occupying the circumference - The officers in the centre. By blinds and other contrivances, the Inspectors concealed... from the observation of the prisoners: hence the sentiment of a sort of omnipresence - The whole circuit reviewable with little, or... without any, change of place. One station in the inspection part affording the most perfect view of every cell."[1] Das Zentrum des Panopticons stellt für die Gefangenen einen blinden Fleck dar, woraus der psychologischer Effekt des Panoptismus (Foucault) resultiert, bei dem das Auge des Wärters zum Auge Gottes wird, das alles sieht. Von diesem Konstruktionsprinzip erhoffte sich Bentham, dass sich zu jeder Zeit alle Insassen regelkonform verhalten, da sie jederzeit davon ausgehen müssen, beobachtet zu werden. Dies führte vordergründig zu einer Verbesserung der Disziplin und einer massiven Senkung der Personalkosten in Gefängnissen sowie in Fabriken zu einer Steigerung der Produktivität.
Panoptismus
Im 20. Jh. wurde das Panopticon vor allem von Michel Foucault (1926–1984) als paradigmatisches Ordnungsprinzip der Moderne und als Ausdruck der "Disziplinargesellschaft" interpretiert. Die permanente Möglichkeit der Überwachung führt nach Foucault zur Selbstdisziplinierung der Individuen auch ohne direkte soziale Kontrolle. Die Menschen werden im Regime des "Panoptismus" systemisch funktionalisiert, indem ihnen externe gesellschaftliche Regeln ohne Bewusstwerdung der Verhaltensnormierung internalisiert werden. Daraus resultiert das "automatische Funktionieren der Macht".[2]
Kontrolldämonen
Der panoptische Blick löst sich im Stadium elektronischer Überwachungstechnologie von baulichen Arrangements. Informationsarchitekturen bilden dezentrale und vernetzte Strukturen, in denen sich das Bentham'sche Panopticon invertiert: das Auge verlässt den ausgewiesenen Platz in der Mitte und verteilt sich in der Umwelt. Die Kontrolle Vieler durch Wenige wird durch die massenmediale Betrachtung Weniger durch Viele (Sendeformat Big Brother) sowie durch die Überwachung Aller durch Systeme und Softwareprozesse ersetzt. Öffentliche Videokameras, Kreditkarten, Mobilfunk und Internet machen Zentralbauten überflüssig. Das Alltagsleben unterliegt einer elektronischen Kontrolltopologie, der innerhalb sozialer und ökonomischer Räume nicht zu entkommen ist. Im Verbund mit automatisierter Mustererkennung und semantischer Bildauswertung erfolgt eine informationstechnische "Dämonisierung" öffentlichen und privaten Lebens. In diesem Sinn kann von Infestations-Technologien gesprochen werden, die überall auflauern, registrieren und verfolgen.
Panoptische Dämonie
Die konventionelle Videoüberwachung, wie sie exemplarisch in London mit 500.000 Kameras (Stand 2005) realisiert wurde, erweist sich zunehmend als ineffizient. Menschliche Wächter vor flimmernden Monitoren sind elektronischen Daemons als langlaufende Computerprozesse, die automatisiert Daten auswerten, unterlegen. Als Zwischenlösung werden "demokratische" Überwachungsstrategien getestet. Im Londoner Stadtvierter Shoreditch wurden 2006 in einer ersten Ausbauphase eintausend Haushalte über Kabelfernsehen von Shoreditch Digital Bridge mit einem "Crime Channel" versorgt. Mehrere Kameras übertragen das Geschehen aus der Nachbarschaft live ins Wohnzimmer. Zusätzlich bietet der Kanal im Sinne von "Naming and shaming" eine Galerie von verhaltensauffälligen Anwohnern. Das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachteten oszilliert; wer den Vorplatz seines Hauses kontrolliert, wird beim Verlassen der Wohnung von anderen kontrolliert. Durch die demokratische Überwachung im Sinne des Überblicks für alle erfolgt eine soziale Dämonisierung in Form einer Allgegenwart des Verdachts. Dieses Bedürfnis nach Panoptismus in einem sozial schwachen Stadtteil spiegelt stärker die Prekarisierung des Lebens und die damit verbundene Aufforderung zu eigenverantwortlichen und unternehmerischen Verhalten, als das Verlangen nach Sicherheit, die im Panoptismus immer phantasmatisch bleibt. Das subjektive Gefühl auf die Umgebung keine Kontrolle ausüben zu können, wird durch panoptische Kontrollmechanismen nicht minimiert, sondern verstärkt. Der Bentham'sche Dämon weitet sich über den Strafvollzug und die Effizienzsteigerung durch Kontrolle am Arbeitsplatz im Taylorismus ins Private aus und unterwandert die Psyche .
Einzelnachweise
- ↑ Zit. n. Robin Evans, The Fabrication of Virtue: English Prison Architecture, 1750-1840. Cambridge 1982, S. 195. Orig.: Jeremy Bentham, Proposal for a New and Less Expensive mode of Employing and Reforming Convicts, London, 1798.
- ↑ Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. Main 1977, S. 258.
Weblinks
Thomas Feuerstein, Zapping • Slapping • Mapping
CTRL (Space) Rhetorik der Überwachung - von Bentham bis Big Brother, Ausstellung ZKM 2001/2002
Literatur
Michael Zinganel, Real Crime. Architektur Stadt & Verbrechen, Wien 2003.