Architektur
Aus Daimon
Inhaltsverzeichnis
Architektur als Schicksal
Ethos Anthropo Daimon (Des Menschen Eigenart/Wohnung ist sein Dämon/Schicksal)
„Ethos“ hatte, wie bei Homer nachzulesen, die Bedeutung von „Wohnort“ oder „Wohnung“. "Ethos" bezog sich auf die Befindlichkeiten und Gestimmtheiten des Menschen, seine Sinnesart, Haltung und seinen Charakter. Heraklits Satz „Ethos Anthropo Daimon“ ist damit ein Wesenssatz der Architektur, der die Frage nach dem richtigen "Wohnen" als Schicksalsfrage des Menschen beinhaltet. Das Haus wird zum gebauten Dämon.
Entwurfsdämonen
Dämonen übernehmen in der Architektur - von der Planung über die Konstruktion bis zu ihrer Stellung in urbanen und sozialen Räumen - unterschiedliche Funktionen. Beim Entwurfsprozess gelangen sie traditionell als Rezepturen im Sinne von Maniera und Stil zur Anwendung oder führen in der computergestützten Planung als algorithmische Entwurfsgeneratoren zu neuen Planungsmethoden.
Konstruktionsdämonen
Bereits im frühen Modernismus stellten Architekten Überlegungen an, wie Konstruktionsprozesse effizient durch Maschinen ausgeführt werden können. Die Fabrikation des Hauses - vergleichbar der Produktion des Autos - soll durch Automatisation erzielt werden, um Kosten zu sparen, körperliche Schwerarbeit zu minimieren und beispielsweise die Wohnfrage als soziale Frage zu lösen. Darüberhinaus könnten zukünftige "Konstruktionsdämonen" eine bisher unerreichte Genauigkeit und Komplexität bei der Ausführung von Gebäuden erzielen. In Verbund mit "Entwurfsdämonen" und algorithmischer Gestaltung eröffnen sich für den Architekten radikal neue Ästhetiken und Funktionen, die die bis heute dominierende Vorstellung des Hauses als Raumhülle ablösen und einen neuen komplexeren Gebäudetypus in Aussicht stellen. Während sich durch Vorfabrikation von Modulen - etwa im Bereich des Fertigteilhauses - die Herstellungsprozesse der Autoindustrie angenähert haben, ist der Einsatz von Robotern auf der Baustelle mit Ausnahme einiger japanischer Firmen derzeit wenig verbreitet. Automatiserte Maueranlagen wie VA I der Firma Rimatech bewerkstelligen bis zu 1000 m2 Wandfläche und stehen in Tradition des "Bricklaying System" (Frank B. Gilbreth) und im Kontext des Taylorismus.
Raumdämonen
Architekturen können als materialisierte Dämonen beschrieben werden, indem sie Körper und Menschenmengen, Energie und Information in Raum und Zeit zu- und verteilen, d.h. organisieren und steuern. Die gebaute Struktur eines Hauses, die Aufteilung von Raum in Kubaturen sowie die Verbindung und Trennung von Räumen untereinander, macht Gebäude zu Ordnungsmaschinen.
Augmented Architecture
Dämonen der Architektur kommen gegenwärtig in Form "intelligenter" Gebäude in ein neues Stadium. Als computergestützte Regelungstechniken kontrollieren sie im Hintergrund Prozesse und Zustände wie Klima, Beleuchtung, Sicherheit, Benutzerverhalten, Energie- und Datenflüsse. In diesem Sinne reglementieren architektonische Dämonen über die Logistik des Raumes hinaus das Zusammenleben von Individuen, deren Kommunikation, die Vernetzung von Gebäuden untereinander sowie die Überlagerung physischer und digitaler Räume (augmented reality). Es entstehen prototypische "Möbiusräume" einer "Augmented Architecture", die reale und virtuelle Räume ineinander verschleift und neue Nutzungs- und Wahrnehmungsbedingungen schafft. Die Schwelle zwischen haptischen Dingwelten und virtuellen Datenwelten wird zunehmend fließend gestaltet. Es entstehen hybride Räume, die atmosphärisch, semiotisch und interaktiv Prozesse abbilden, darauf reagieren und sich auf Basis aktueller Ereignisse situativ konstruieren. Klassische Gebäudeformen, wie sie noch immer das Stadtbild prägen, bleiben von diesen Dynamiken nicht verschont. Ihre repräsentative Verpackung bildet die Hülle für eine digitale Infrastruktur, was der Urbanist Martin Pawley mit "Stealth-Architektur" beschreibt.[1]
Variable Architektur
Historische Projekte zielten vor allem auf eine Dynamisierung des Raumes und operierten mit Störungen statischer Gebäudestrukturen, um über Irritationen Gewohnheiten zu destabilisieren.
SEEK war eine KI-inspirierte Installation von Nicholas Negroponte und seinen Kollegen von der Architectural Machine Group des MIT. Das Projekt experimentierte primär auf einer metaphorischen und weniger auf einer angewandten Ebene. Lebende Wüstenspringmäuse wurden in einen Glaskäfig mit Aluminiumbausteinen gesetzt. Ein computergesteuerter Roboterarm konnte von oben in den Käfig herabgelassen werden. Das System war darauf programmiert, die Bausteine nach einem geplanten Muster anzuordnen und sollte „intelligent“ auf die von den Mäusen produzierten Geräuschen - z. B. das Trippeln der Füße auf den Bausteinen - reagieren.
Der britische Architekt Cedric Price (1934-2003) untersuchte in den 1970er Jahren Möglichkeiten einer “artificially intelligent architecture”, indem er etwa für ein Künstlerhaus in White Oak, Florida, die Schaffung einer flexiblen Architektur mit temporären Strukturen konzipierte. Über einen Computer sollte der/die BesucherIn/BewohnerIn/BenutzerIn jeden der 150 klimatisierten und automatisierten Kuben (4 x 4 x 4 m) steuern können.
Kontrolldämonen
Das Dämonische der Architektur liegt in der Messung und Kontrolle von Menschen, die sich wie Teilchen einer Gasmenge in Räumen bewegen. Vernetzte Elektronik ermöglicht die automatisierte Überwachung menschlicher Korpuskel, wodurch Kontrolldämonen in Form automatisierter panoptischer Systeme in die Lage versetzt werden, Gebäude und ganze Stadtteile zu observieren und zu steuern. Derartige Szenarien, die seit den 1990er Jahren zum integralen Bestandteil urbanen Alltagslebens geworden sind, finden sich als eigenes Genre innerhalb von Science Fiction, wo intelligente Häuser wie in Demon Seed zur Falle der Bewohner oder wie in George Orwells 1984 zum Instrument totalitärer Regime werden. Die Korrelation unterschiedlicher Daten über vernetzte digitale Systeme ermöglicht das Tracking von Personen sowie die Abschätzung ihrer Handlungen und Verhaltensweisen, wie es u.a. Thema des Filmes Minority Report ist.
Die funktionelle Differenz zwischen Unterstützung und Überwachung des Benutzers von Gebäuden und öffentlichen Räumen verläuft fließend und erweist sich abhängig vom Kontext und von der jeweiligen Intention der Dateninterpretation. Dass Raum zum Dispositiv der Überwachung wird, antizipierten bereits der belgische Soziologe Adolphe Quêtelet im Rahmen seiner sozialen Physik oder der britische Philosoph Jeremy Bentham in Form des Panopticons, einer zentralen Architektur in Strahlenbauweise.
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Martin Pawley, Die Auflösung der Stadt. Über den digitalen Urbanismus
Weblinks
George Stiny und James Gips, Shape Grammars and the Generative Specification of Painting and Sculpture
Terry Knight, Shape Grammar Site
Manfred Wolff-Plottegg, Architektur-Algorithmen