Derivat
Aus Daimon
Derivat: Dämon der Börsen
Derivate sind Bezugsysteme, die auf Basis realer Waren bzw. Märkte, Zukunft und Werte berechenbar werden lassen sollen. Derivate beziehen sich auf - leiten sich ab von - Handelsmärkten, um diese risikofreier gestalten zu können.
Der effektive dämonische Aspekt der Derivate ist ihr Einsatz zur Absicherung, d.h. die Möglichkeit, realen Verlust zu minimieren beziehungsweise in Gewinn zu verwandeln. Die Katastrophe der negativen Bilanz und die dämonische Plage der Unsicherheit können also durch den Dämon Derivat geglättet werden.
Entwicklung und Einsatz der Derivate zeichnen das Bild der markantesten Form der Regelungstechnik (Kybernetik) der globalen Finanzmärkte und ihrer Ströme. Dementsprechend ist ihr Einsatz durch geringe Impulse gekennzeichnet, mit denen das Hauptsystem reguliert und beeinflusst werden soll. Dies wird als Leverage - Hebelwirkung - bezeichnet. Der Dämon der Derivatgeschäfte kann also durchaus mit dem Maxwell'schen Dämon verglichen werden, wobei aber im System offensichtlich in keinster Weise Idealzustand herrscht. Dennoch, es ist die Idee der Derivate, dass Märkte geordnet und kontrolliert werden können, indem Differenzen durch die Marktteilnehmer ausgeglichen werden und ein für alle vorteilhaftes Gleichgewicht geschaffen wird.
Derivate sind in jenem Zusammenhang dämonisch, als sie das "Böse" - das Risiko des Verlusts - nicht aufheben, sondern ganz im Gegenteil aufwerten. Nur wer eine Gegenhaltung einnimmt, antipodisch agiert, wer Risiko, Unsicherheit auf sich nimmt, kann überhaupt an der Verteilung von Verlust und Gewinn teilhaben. Der Spekulant ist der wesentliche Akteur, der das Risiko übernimmt. Er ist idealtypisch der Daimon, der Genius der Börsen, ein Heiler, eine Schutzengelfigur, oder, wenn man will, der Maxwell'sche Dämon, der die Differenzen ausgleichen soll. Dies entspricht aber nicht der landläufigen Meinung, die den Spekulanten mit allen Problemen, Unsitten und Abstürzen in Verbindung bringt. Der teuflische Dämon der Gier spiegelt sich in ihm genauso wie der griechische Daimon als Verteiler von Risiko innerhalb seiner Sippe.
Die Abgeschiedenheit als weiterer Aspekt, in diesem Fall die Abgeschiedenheit der Zukunft selbst, tritt in den Mittelpunkt der Aktivitäten, um Gegenwart zu manipulieren. Die Verteilung von Unsicherheit und Risiko wird neu geregelt und damit ein prophetischer Pragmatismus eingeführt, in dem Arbeit eine spielerische Facette erhält, die den Ertrag des "Handwerks" über die Regeln der Wette, die die Grundlage des Handels mit Derivaten darstellt, letztformt. Damit ist auch ein ästhetischer Aspekt angesprochen, der die minutiöse Formbarkeit bzw. deren Versuch als eine Art "Finishing" (Politur) oder "Tuning" beschreibbar macht, wobei ein hohes Mass an Anpassungsfähigkeit an komplexe Systeme vorausgesetzt wird. Derivate stehen somit in der Tradition des Spiels (s.a. Spieltheorie), welches nicht nur Regeln gehorcht, sondern diese neu definiert und im Spielen entwickelt und ausbaut. Die Aktivierung der Zukunft als arbeitendes, produzierendes Spiel - der Handel mit Derivaten - gebiert das Feld, seine Differenzierung und damit seine explosionsartige Ausdehnung und Vermehrung im virtuellen Raum der Finanzströme.
Derivate werden überwiegend glattgestellt, d.h. es werden nicht Waren der übergeordneten Märkte angenommen und ein Handel geschlossen, sondern durch Einnehmen der Gegenposition das Geschäft beendet und in Geld abgerechnet. Geld und Derivate stellen somit einen virtuellen Kreislauf dar, der in gigantischem Ausmass, hoher Komplexität und sich steigernder Diversifizierung irreale Differenzbeziehungen herstellt, die erst durch Glattstellung die "alte Ordnung" primärer Märkte wiederherstellen beziehungsweise diese simulieren.
Die Börsen sind durch die Entwicklung der Derivate zu Konsummärkten geworden, die heute vermarktet werden und allen offen stehen - eine Entwicklung, die in den 1980er-Jahren begann. Trotz ihrer unbestrittenen Komplexität und zum Teil sogar Undurchschaubarkeit werden sie in grossem Stil von Banken und Investmenthäusern gehandelt. Eine grosse Zahl von Hobbyspekulanten setzt, durch niedrige Kosten und Hebelwirkung angelockt, auf globale Rohstoff-Finanz- und Aktienmärkte. Die Konsumtempel des beginnenden 21. Jahrhunderts habe sich somit, trotz der Krise des amerikanischen Wirtschaftssystems, in die virtuellen Online-Seiten der Zertifikathändler verlagert. Geld konsumiert nicht mehr Waren, es konsumiert die Wette, das Recht auf seine Vermehrung bzw. Zerstörung. Inwieweit sich hier "Dämonisches" im christlich-mythologischen Sinne abspielt, dies zu beurteilen mag Theologen und Kulturkritikern überlassen bleiben.
Weblinks und Literatur
Richard Bookstaber, A Demon of our own design, Hoboken/New Jersey, 2007.