Mem

Aus Daimon

Maria L. Felixmüller

Mem / Mneme

Die Vorstellung, dass Kultur auf latenten, konsensualen Konzepten und Werten beruht, wurde begrifflich als Mnemotype, Idee, Soziogen oder Kulturgen beschrieben. Der Begriff Mem, den Richard Dawkins 1976 einführte[1], hat dabei die stärkste Resonanz und Verbreitung gefunden. Wobei die Idee des Mems eine viel ältere ist und ihre erste Popularitätswelle im frühen 20. Jahrhundert durch Ewald Hering (1834–1918, Physiologe) und Richard Semon (1859–1918, Evolutionsbiologe) erfuhr. Damals wurde noch von Mneme gesprochen, in Anlehnung an Mnemosyne (griechisch Μνημοσύνη; von μνήμη mnēmē, „Gedächtnis“; vergleiche lateinisch memoria). Die Tochter des Uranos und der Gaia, gehört zu den Titanen und gilt als „Göttin“ der Erinnerung und die Mutter der neun Musen.

Ewald Hering Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie

Der Physiologe und Hirnforscher Ewald Hering entwickelt in einem Vortrag Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie [2], gehalten in der feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 30. Mai 1870, zum ersten mal die These, dass sich wissensbasierte Eigenschaften auf die Nachkommen vererben können. Dabei erwähnt er zu Anfang bewußt, dass er sich als Naturforscher in das Reich der Philosophie begibt und die Psychologie als Hilfsmittel physiologischen Forschung heranziehen wird.

Unter dem Gesichtspunkt des Grundvermögens der organisierten Materie betrachtet er das Gedächtnis und seine Reproduktionsfähigkeit. Das Gedächtnis versteht er als den Überbegriff für alle Emotionen, Vorstelluungen, Emfindungen, Strebungen und erklärt es damit zu einem Urvermögen. Durch Wiederholung hinterläßt alles sinnlich wahrgenommene im Nervensystem eine materielle Spur und durch die Nervensubstanz können all die Erinnerungsbilder sinnlicher Wahrnehmungen ohne von Außen kommenden Reiz abgerufen werden. Die Nervensubstanz bewahrt die einzelnen Bilder und im Gedächtnis werden diese Erinnerungsbausteine wieder zu einem Ganzen zusammen gesetzt.

Dies vorausgesetzt, sieht sich Hering aufgrund nicht weiter ausgeführter Tasachen zu der Annahme berechtig, dass die Eigenschaften, gespeichert im Gedächtnis durch die Nervensubstanz auf die Nachkommen übertragen werden[3]. Das Nervensystem ist mit jeder Zelle im Körper und der Organe über die leitungsfähige Nervensubstanz verbunden[4], auch in den Keimstock mit dem Keimen, wie Hering zeitgenössisch entsprechend den Eierstock und die weiblichen Fortpflanzungseier bezeichnet. Der aus dem Ei erwachsene Organismus, kann sich dementsprechend an die Erfahrungen, des Organismus aus den er/sie hervorgegangen ist, erinnern[5]. Für Hering steht fest: „Und ob es noch dieselbe organisierte Substanz ist, die ein einst Erlebtes reproduciert, oder ob es nur ein Abkömmling, ein Theil ihrer selbst ist, der unterdeß wuch und groß ward; dies ist offenbar nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesen.“[6] Er findet dafür auch ein Beispiel, im sofortigen Davonrennen des Kückens oder dem ungelernten Picken nach Körnern direkt nach dem Schlüpfen aus dem Ei und belegt damit seine These, dass es sich um „eine fortlaufende Kette von Erinnerungen [in der] Entwicklungsgeschichte“[7] handelt. In dem Kücken zeigt sich „das organische Wesen, als ein Produkt des unbewußten Gedächtnisses der oganisierten Materie“[8].

Hering ist sich bewußt, dass gerade zeitgenössische naturphilosophische Mystik das Verhalten des Kückens als Instinkt ansehen würde, doch das hindert ihn nicht daran „den Instinct als Äußerung des Gedächtnisses oder der Reproduktionsvermögens der organisierten Materie“[9] zu erkennen. Das, was er als Instinkt beim Tier ansieh, ist die Anlage beim Menschen, die sich aus tausendjähriger Erfahrungsarbeit in der Nervensubstanz gebildet hat[10]. Den Anlagen ordnet er auch die menschlichen Triebe zu, die am stärksten in der Nervensubstanz - „mit der Macht einer Elementargewalt“[11] - eingeschrieben sind. Was ihm logisch erscheint, da der Mensch noch nicht all zu lang, im Verhältnis zu seiner Existenz „den Schmuck eines großen und reich entwickelten Gehirns“[12] trägt.

Hering versetzt die Wirkung des Gedächtnisses in der organisierten Materie, als einer der Ersten, in das Reich der großen Ideen, „denn wären sie tausendmal in Schrift und Sprache verewigt, sind [sie] Nichts für Köpfe, die nicht dazu gestimmt sind; sie wollen nicht blos gehört, sie wollen reproduciert sein“[13]. Dem sei hiermit genüge getan und hätte Hering nicht in seiner Einleitung klar und deutlich erwähnt, dass er sich in das „Reich der Speculationen“[14] begibt mit seinen Ausführungen, wäre man aus heutiger Sicht stark geneigt sich kritisch zu Äußern. Doch die Gedächtnistheorie von Hering soll so hingenommen werden.

Richard Semon und die Mneme

Richard Semon hatte seine Mneme-Theorie aus den bei Hering geschilderten Ansätze entwickelt[15]. Seine erste Publikation zu dem Thema Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens[16] entstand im Kontext der Evolutionstheorie. Semon, Mediziner und Naturwissenschaftler, stellte sich die Frage nach der Vererbarkeit individueller oder kollektiv erworbener Eigenschaften. Von dem Stichwortgeber Hering, sieht er die organisierte Materie als Trägermedium. Semon hatte 1901 angefangen an der Theorie zu arbeiten und anders als Hering, der sich ganz klar definiert im Reich der Speculationen verortete, wollte er die Dauer der Mneme nach allen Regeln der Wissenschaft im Wechsel des organischen Geschens untersuchen. Dazu stellte er die Mneme-Theorie auf eine breite wissenschaftliche Basis; Naturwissenschaft, Physik, Psychlogie wurden hinzugezogen. Dies machte die hohe Breitenwirkung aus, als das Buch erschien[17]. Die Publikation sollte nicht weniger als die Erblichkeit eines Gattungsgedächtnisses entwickeln und belegen, dass es unabhängig vom Bewußtsein war[18].

Semon stellt dafür einen Begriffskatalog zusammen, der weitreichende Wirkung haben sollte bis hinein in das Internetzeitalter, wie sich später noch zeigen wird. „Ich bezeichne diese Wirkung der Reize als ihre engraphische Wirkung, weil sie sich in die organische Sustanz sozusagen eingräbt oder einschreibt. Die so bewirkte Veränderung der organischen Substanz bezeichne ich als das Engramm des betreffenden Reizes, und die Summe der Engramme, die ein Organismus ererbt oder während seines individuellen Lebens erworben hat, bezeichne ich als seine Mneme[19], wobei die Unterscheidung einer ererbten und einer [i]ndividuell erworbenen Mneme sich von selbst ergibt. Die Erscheinungen, die am Organismus aus dem Vorhandensein eines bestimmten Engramms oder einer Summe von solchen resultiert, bezeichne ich als mnemische Erscheinung.“[20] Soweit Semon zu seinen eigenen Begrifflichkeiten. Die Reize sind wie bei Hering in all den Zellen des Organismus empfänglich und die Wirkung schreibt sich als latentes oder manifestes Engramm ein. Der Originalreiz wird nach den von Semon festgelegten Assoziationsgesetzten wahrgenommen und verarbeitet, dadurch ist eine gewisse Berechenbarkeit gegeben. Die Mneme ist somit eine Art Energiespeicher und kann durch Verschiebung und Versetzung Engramme aus einem latenten in einen manisfesten Zustand bringen, womit ihr eine Selbststädnigkeit zugesprochen wird, wofür Semon noch den Begriff der Ekophorie hinzufügt[21]. Diese Versetzung kann durch minimale Reize von Außen, aber ebenso durch innere ausgelöste Assoziationen einsetzen. Durch Ekphorie kann organisierte Materie dementsprechend von alleine operieren.

Damit ergeben sich für Semon zwei Hauptsätze, der Satz der Engraphie und der Satz der Ekphorie. Der erste Satz bestimmt, dass sich aus gleichzeitigen Erregungen ein zusammenhängender Erregungskomplex aufbaut, dessen engraphische Wirkung einen Engrammkomplex verursacht. Der zweite legt fest, dass die partielle Wiederkehr der Erregungskomplexe – als Originalreiz oder mnemisch – ekphorisch wirkt und zu der Versetzung des Engrammkomplexes führt. Er ist davon überzeugt, dass es dabei keine Verluste gibt, unabhängig von der Intensität des Reizes[22].

Die Assoziationsgesetzte bestimmen die Verknüpfungsregeln und können die Ähnlichkeitsrelationen und qualitativen Reize der jeweiligen Sinnesorgane, aufeinander, gleichzeitig, phasenweise oder chronologisch folgen lassen. Gleichzeitig entwickelt Semon aus den mehr oder weniger belegten wissenschaftlich-zeitgenössischen Erkenntnissen der Entwicklungsmechanik und Variationsforschung einen Steuerungsmechanismus, der der Mneme-Theorie das notwendige Wissenschaftsfundament hinzufügt[23]. Er liefert jedoch auch konkrete Beispiele aus dem Leben und macht an einem solchen auch die dialektische Masse, als Teil und Ganzes sowie Latentem und Manifesten, der Menem deutlich. In der privaten Erinnerung finden sich überraschende Anzeichen dafür, wenn plötzlich das ganze Engramm einer vergangenen Situation in den Geist einfällt, obwohl man nur einen Teil, z.B. den Geruch von damals wahrgenommen hat. Ebenso kann jedoch das eingefallene Engramm ein weiteres zum Einfall reizen, wie z. B. einer Person, an die man schon lange nicht mehr gedacht hatte. Der Sprachwissenschaftler Stefan Rieger nennt diesen Aspekt in der Mneme-Theorie Semons die Virtualität[24], deren Wirkung durch den „extremen Konstruktivismus der Theorie“ noch verstärkt wird. Und der Begriff ist auch schlüssig, wenn man sich vor Augen führt, dass die Latenz der Engramme die Kraft hat[25], in einer Unzahl an Möglichkeiten[26] einfallen kann. Erinnernt man sich an die Wucht, mit der ein Einfall einen plötzlich treffen kann, scheint es nicht wenig erstaunlich, dass Semon den eingeschrieben Engrammen eine große so Wirkungsmöglichkeit zu spricht, obwohl sie in der vornehmlich Latenz verborgen liegen.

Auch Semon macht wie Hering den Schritt, seine Gedächtnistheorie in einen Kontext zur menschlichen Denkweise zustellen und damit in den der Kulturpsychologie. Doch auch hier geht Semon einen Schritt weiter als Hering und schafft ein Modell, dass die Organisation des Wissens als einen physilogischen Prozess betrachtet – in Abhängigkeit der organisierten Materie- und damit einhergehend mechanisiert. Die Mneme-Theroie Semons war mathematisch-physikalisch fundiert. Doch vor allem an der Versetzung der Engramme auf rein mnemischen Weg, sieht Semon den Funken, der das menschliche Denken ausmacht: „in der Bildung dieser Aussoziationen findet die höhere mnemische Fähigkeit des Menschen ihren stärksten Ausdruck.“[27] Semons „Mechanik des Wissen“[28] wird somit zu einem Werkzeug der Untersuchung wie sich Wissen verbreitet, bekannt und intensiviert wird. Das Semonsche Modell der Mneme ist ein gut anwend- und übertragbares, dass das Konzept Herings der organisisreten Materie um die Mneme erweitert.

Richard Dawkins Meme, die neuen Replikatoren

Meme sind nach Dawkins in metaphorischer Anlehnung an das biologische Gen „Ideen, Überzeugungen, Verhaltensmuster“, die durch Kommunikation sich vermitteln und zur kulturellen Evolution beitragen. Dawkins benutzt die Meme für "kleine kulturelle Einheiten ... , die durch Kopie oder Imitation von Mensch zu Mensch weitergegeben werden"[29]. Meme kämpfen darwinistisch wie Gene um ihre eigene Vermehrung. Menschen sind nur Träger und Vehikel, die gleichsam einer Infestation von Memen in Besitz genommen werden, womit sich eine Nähe zu Parasiten oder mythischen Dämonenkonzepten sich aufdrängt. Meme agieren in diesem Sinne als soziale Dämonen, die eine Kultur infizieren und Menschen nutzen, um sich zu replizieren. "Diese neuen Replikatoren sind, grob gesagt, Ideen (...) - zum Beispiel die Idee Bogen - Rad - Kleidung tragen - Blutrache - rechtwinkliges Dreieck - Alphabet - Kalender - die Odyssee - Infinitesimalrechnung - Schach - perspektivisches Zeichnen - Evolution durch natürliche Selektion - Impressionismus - (…). Die ersten vier Töne von Beethovens fünfter Symphonie sind eindeutig ein Mem, denn sie vermehren sich selbst unabhängig von der übrigen Symphonie und behalten dabei immer eine gewisse gleichartige Wirkung (einen phänotypischen Effekt); deshalb gedeihen sie auch in einem Umfeld, in dem Beethoven und seine Werke unbekannt sind."[30]

Der Begriff Mem scheint Dennetts These mittlerweile selbst zu erfüllen oder wie Dawkins anmerkt: „Offensichtlich entwickelt sich langsam sogar eine Art Religion der Meme - ich weiß nicht recht, ob das vielleicht ein Scherz sein soll.“[31]

Einzelnachweise

  1. Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford 1976.
  2. E. Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie., Wien 1.1870.
  3. Ebd. S. 16.
  4. Ebd. S. 17.
  5. Ebd. S. 19.
  6. Ebd.
  7. Ebd. S. 21.
  8. Ebd.
  9. Ebd. S. 23.
  10. Ebd. S. 25.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Ebd. S. 26.
  14. Ebd. S. 1.
  15. Semon hatte seine Theorie der Mneme und die Arbeit dazu Ewald Hering gewidmet und macht die Wichtigkeit des Physiologen für die Theorie in seinem Vorwort mehr als deutlich gemacht. R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens - Facsimile Print,2001, S. III–VII.
  16. R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1.1908.
  17. Stefan Rieger, Richard Semon und Aby Warburg - Mneme und Mnemosyne. In: Medien des Gedächtnisses, in: Deutsche Vierteljahrsschr. Für Lit. Geistesgesch. 72. Jahrg. (1998).
  18. „Das Gedächtnis gehört nicht zum Bewußtsein“, es ist die Eigenschaft, die das Leben vom Tode trennt und den Geist ausmacht. E.H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, übers. von M. FienbrockNeuauflage2012, S. 463.
  19. Hier fügt Semon seine erste Fußnote ein: „Ich wähle für die so von mir definierten Begriffe eigene Ausdrücke. Zahlreiche Gründe bestimmen mich, von den guten deutschen Worten Gedächtnis und Erinnerungsbild keinen Gebrauch zu machen.“ Dies tut er vor allem, weil er sie wesentlich breiter fassen und über ihre mentale Entsprechung hinausgreifen möchte. R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens - Facsimile Print 2001, S. 2
  20. Ebd.
  21. „Unter Ekphorie eines Engramms verstehen wir die VErsetzung eines Engramms aus einen latenten in einen manifesten Zusatnd. “ R. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens - 1920, Leipzig 4. u. 5.1920, S. 187.
  22. Ebd. S. 200f.
  23. Stefan Rieger, Richard Semon und Aby Warburg - Mneme und Mnemosyne. In: Medien des Gedächtnisses, s. 253.
  24. Ebd. S. 255.
  25. Virtualität, http://www.duden.de/rechtschreibung/Virtualitaet (Stand: 11.10.2014; Abruf: 11.10.2014). sowie lateinisch virtus = Tüchtigkeit; Mannhaftigkeit; Tugend
  26. Ebd.
  27. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens - 1920, S. 134.
  28. Stefan Rieger, Richard Semon und Aby Warburg - Mneme und Mnemosyne. In: Medien des Gedächtnisses, S. 356.
  29. L. Shifman, Meme: Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, übers. von Y. Dincer, Berlin 2014, S. 9.
  30. Daniel C. Dennett, Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, Hamburg 1997, S. 477f.
  31. Richard Dawkins, Der entzauberte Regenbogen. Wissenschaft, Aberglaube und die Kraft der Phantasie, Reinbek 2000, S. 388.