Wächter
Aus Daimon
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Inhaltsverzeichnis
Portier
Türen sind flexible architektonische Elemente, die Wände reversibel gestalten. Indem sie Räume temporär öffnen und schließen, schützen sie aber nicht nur vor Zugluft und helfen im Winter die Wärme im Haus zu halten: von einem Pförtnern, Portier oder Concierge bedient oder von Schloss und Riegel gesichert, trennen sie innen von außen und schaffen eine Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, arm und reich, zwischen Arbeitenden von Arbeitslosen, erwünschten und unerwünschten Gästen. Der Wächter macht die Türe wie bei Kafka[1] zu einer Schicksalspforte, die Unterscheidungen in Form von Hierarchien und Differenzen konstruiert. Wie der Maxwell'sche Dämon sorgen Türen und ihre Wärter für Asymmetrie, die auf die Herstellung oder Aufrechterhaltung von Ordnung, Energie und Information zielt. Türen in Verbindung mit Portieren oder technischen Überwachungs- und Sicherheitssystemen sind architektonische und soziale Dämonen, die Zu- und Verteilungen von Menschen, deren Rechten und Möglichkeiten regulieren. Wird der Portier (franz. portière) durch ein automatisch-technisches System ersetzt, wird die Türe (franz. portier) zu einem hybriden Wesen, das nach Bruno Latour "durch und durch anthropomorph" ist: "Der Türschließer ist tatsächlich anthropomorph, und zwar in drei Hinsichten: Zuerst wurde er von Menschen gemacht, er ist eine Konstruktion; zweitens ersetzt er die Handlungen von Menschen und ist ein Delegierter, der permanent die Position eines Menschen besetzt; drittens gibt er menschlicher Handlung Gestalt, indem er präskribiert, welche Art von Menschen durch die Tür gehen sollen."[2] Der automatische Portier, sprich Türschließer, ist das Produkt einer Transkription oder Übersetzung menschlicher Arbeit in eine technische Funktion, von einem Körper in eine Maschine: "Ich werde die Übersetzung jedes Skripts von einem in ein dauerhaftes Repertoire Repertoire Transkription, Inskription oder Inkodierung nennen. Übersetzung hat hier nicht nur ihre linguistische Bedeutung, sondern auch eine religiöse ('Übersetzung der Überreste von St. Christel') und eine künstlerische ('die Übersetzung der Gefühle Calders in Bronze'). Diese Definition impliziert nicht, dass die Richtung immer von weichen Körpern zu harten Maschinen geht, sondern einfach, dass sie von etwas Vorläufigem, wenig Verlässlichen, zu etwas Dauerhafterem, Treueren geht. Die Verkörperung in der kulturellen Tradition eines Benutzerhandbuches für ein Auto ist zum Beispiel eine Transkription, genauso wie der Ersatz eines Polizisten durch eine Ampel."[3]
Polizist
Der Polizist ist ein Wächter der Ordnung, ein Exekutivbeamter, der die Einhaltung von Regeln und Gesetzen überwacht und vollstreckt. Er perlustriert verdächtige Individuen, sorgt für Zu- und Verteilungen im Verkehrsfluss, misst die Geschwindigkeit von Fahrzeugen. Auf Ebene er Thermodynamik entspricht ihm der Maxwell'sche Dämon, der physikalische Unterscheidungen trifft und molekulare Ordnung stiftet. Der Polizist ist sein staatliches Äquivalent, der Delinquente von rechtschaffenden Bürgern trennt und gegen den entropischen Verlust gesellschaftlicher Werte angeht. Im Unterschied zum Maxwell'schen Dämon resultiert aus seinem Handeln aber keine neue Energie und Information, sondern die Erhaltung des Status quo. Der Polizist kommt daher niemals mit der Thermodynamik in Konflikt, er kreiert kulturell und sozial nichts Neues und operiert deterministisch. Insofern gleicht er in seinem Bemühen dem Laplace'schen Dämon, der das Verhalten sozialer Teilchen vorherbestimmt oder im Nachhinein aufklärt. Technisch ist der Verkehrspolizist durch Ampeln, Radarautomaten, Schrankenanlagen oder Fahrbahnschwellen ersetzbar.
Gendarm
In Die Hoffnung der Pandora beschreibt Bruno Latour anhand der Fahrbahnschwelle, die in Frankreich "schlafender Gendarm" genannt wird, die Überquerung der Grenze zwischen Zeichen und Dingen. Sie ersetzt Verkehrszeichen und Warntafeln in eine Handlung und schafft eine "Veränderung der Ausdrucksmaterie". Techniken sind nach Latour "Gestaltveränderer", die "einen Haufen feuchten Betons in einen Gendarmen" verwandeln und "einem Polizisten die Dauerhaftigkeit und Hartnäckigkeit von Stein" verleihen.[4] Die Bodenschwelle versammelt unterschiedliche Handlungsprogramme: die Moral (Fahre langsam und gefährde nicht andere!), die Verkehrskontrolle und den Polizisten, den Fahrer, der an die Stoßdämpfer seines Fahrzeugs denkt, die Anrainer, die sich um ihre Kinder sorgen, das Gesetzeswerk der Straßenverkehrsordnung, die Techniken und Normen der Automobil- und Straßenbauingenieure, politische Entscheidungen und dergleichen mehr. Durch dieses versammelte "Kollektiv" aus Menschen, Dingen und Programmen wird eine Handlung formiert. Der "schlafende Gendarm" wird zu einem Aktanten, in dem sich Menschliches und Dingliches mischt. "Die Menschen sind nicht mehr unter sich. Wir haben schon zu viele Handlungen an andere Aktanten delegiert, die nun unsere menschliche Existenz teilen. (...) Letzten Endes besteht die Straßenschwelle eben doch nicht aus Materie; sie steckt voller Ingenieure und Rektoren und Gesetzgeber, deren Willen und Geschichten hier untrennbar verwoben sind mit denen von Kies, Beton, Farbe und statistischen Berechnungen. In diesem blinden Fleck, in dem Gesellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen, findet die Vermittlung, die technische Übersetzung statt, die ich zu verstehen suche." In dieser Zone, in der Eigenschaften des Menschen verdinglicht werden bzw. der Polizist zu Asphalt wird und umgekehrt, resultieren rekursive Verschachtelungen von Subjekt und Objekt. Es entstehen Dämonen, die nicht aus einer Schattenwelt in den Alltag hereinbrechen, sondern den Alltag bedingen. Sie sind Teil unseres Denkens und Handelns, ohne dass sich notwendigerweise Formen der Besessenheit, der Entfremdung oder des Fetischismus einstellen müssen. Der "schlafende Gendarm" als Aktant, ist gleichzeitig das passive Produkt und der aktive "Automat" von Zu- und Verteilungen innerhalb von Handlungsschemata. Damit gelingt Latour die Beschreibung kultureller Artefakte auf einer intersubjektiven Ebene, auf der das Verhältnis zwischen Menschen und Dingen, Werkzeugen, Maschinen, Arbeitsumwelten etc. bei weitem nicht sauber und rein geklärt ist, wie es vordergründig den Anschein nimmt. Die Dämonen stecken in allen Artefakten, sind von einer "omnipräsenten Latenz" und beeinflussen als Handlungsprogramme und Alltagsroutinen den Lebensablauf.
Einzelnachweise
- ↑ Neben dem Landvermesser K. in "Das Schloß" zählt der 1915 von Kafka veröffentlichte Text "Vor dem Gesetz", später im Kapitel "Im Dom" des Romans "Der Prozeß" erschienen, zu den berühmtesten Türhüterparabeln: "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. 'Es ist möglich,' sagt der Türhüter, 'jetzt aber nicht.' Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: 'Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.' Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: 'Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.' Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. 'Was willst du denn jetzt noch wissen?' fragt der Türhüter, 'du bist unersättlich.' 'Alle streben doch nach dem Gesetz,' sagt der Mann, 'wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?' Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: 'Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.'" (Franz Kafka., Der Prozeß, Frankfurt a. Main 1987, S. 182f.)
- ↑ Jim Johnson (alias Bruno Latour), Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen, in: Andréa Bellinger, David J. Krieger (Hg.), ANThology, Bielefeld 2006, S. 246.
- ↑ Jim Johnson (alias Bruno Latour), Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen, in: Andréa Bellinger, David J. Krieger (Hg.), ANThology, Bielefeld 2006, S. 251.
- ↑ Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a. Main 200, S. 231.
Literatur
Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. Main 1998.
Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. Main 2001.