Acheiropoieton

Aus Daimon

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Geschichte und Mythos

Gnadenbild im Seitenaltar der Pfarrkirche Absam i. Tirol.

Acheiropoíeton (αχειροποίητο, wörtlich nicht von Menschenhand geschaffen, lat. non manufactum, russisch ne-ruko-tworenij) oder Vera Icon bezeichnet in der christlichen Orthodoxie ein Kultbild, das der Überlieferung nach von einer höheren Macht hervorgebracht wurde. Insbesondere im Volksglauben werden diesen Bildern wundertätige Kräfte zugeschrieben. Die Vorstellung von höheren Wesen geschaffenen Bildwerke existierte bereits in der Antike in Form der griechischen Diipetes (gr. ΔΙΙΠΕΤΕΣ, auch Diopetes oder Iovis proöes "vom Himmel gefallene", von Zeus stammende Bilder). Cicero beschrieb das Wunderbild der Ceres als non humana manu factum sed de caelo lapsum ("nicht von menschlicher Hand gemacht, sondern nach allgemeinem Glauben vom Himmel gefallen"). Weitere Bildwerke himmlischen Ursprungs waren die Statue der Artemis aus Ephesos oder das Idol der Athena im Athenatempel der Akropolis, das Zeus auf die Erde gesandt haben soll. Der erste Bericht über ein christliches Acheiropoíeton stammt aus dem Jahr 574 n. Chr. vom Historiker Georgios Kedremos, der über Funde in Kamulia (Kappadokien) sowie Apameia (Syrien) berichtet. Er spricht von theo teukton eiona ("ein gottgeschaffenes Bild, das nicht von Menschenhänden stammt"). Ebenfalls als Acheiropoieta gelten die Sinai-Ikonen aus dem 5. bis 7. Jahrhundert im Katharinenkloster. Weitere Beispiele sind das Schweißtuch der Veronika, das Turiner Grabtuch, der Schleier von Manoppello sowie die Abgar- und Lukasbilder.

Ein Acheiropoíeton, dessen Entstehung detailliert dokumentiert ist, findet sich im rechten Seitenaltar der Pfarrkirche Absam in Tirol. Der Überlieferung nach saß am 17. Januar 1797 die achtzehnjährige Bauerntochter Rosina Buecher in ihrem Haus in Absam beim Nähen gegenüber einem Fenster. Zwischen 15 und 16 Uhr wurde an der Fensterscheibe ein Brustbild der weinenden Gottesmutter sichtbar. Versuchte man das Bild wegzuwischen, erschien es sogleich wieder. Nach eingehender Untersuchung und auf Verlangen der Bevölkerung wurde mit Zustimmung des Bischofs von Brixen das Bild am 24. Juni 1797 in die Kirche von Absam überstellt, wo es heute noch als Gnadenbild verehrt wird.[1]

Idolatrie

Artemis von Ephesus, Archäologisches Museum Selçuk. Die Steinskulptur war in der antiken Vorstellung ein Diipetes, ein von Zeus gesandtes und vom Himmel gefallenes Bild.

Das Acheiropoíeton steht in seiner kultischen Bedeutungs- und Verwendungsstruktur dem Fetisch nahe, indem das Göttliche nicht nur abgebildet, sondern real anwesend und von entsprechender Macht und Wirkung gedacht wird. Die materielle Berührung des stofflichen Mediums überträgt die heilige Substanz des Abgebildeten und erhöht das Bild oder den Gegenstand zu etwas Heiligem. Das Bildnis ist nicht Abbild, es ist Wohnung und dinglicher Avatar eines höheren Wesens. Diese in "heidnischen" Kulten gebräuchliche Praxis wurde aus christlicher Sicht als Idolatrie angeprangert und antizipierte die moderne Kritik am Fetischismus. Der magische Unterschied eines Acheiropoíeton zu einem Götzenbild verdankt sich dem Umstand, dass sowohl Geist als auch materielle Behausung nicht von Menschenhand fabriziert sind und einer überirdischen Ordnung angehören. Das Acheiropoíeton erfährt dadurch eine doppelte Fetischisierung in Form von Provenienz und Herstellung sowie ritueller Verwendung und Aura. Aus theologischer Sicht ist das Acheiropoíeton ein wundersames Zeichen Gottes, während Götzenbilder nach Augustinus kunstfertig hergestellte, d.h. technische Objekte sind, um Seelen und Dämonen einzufangen. Die Kritik an Idolatrie verbindet sich bei Augustinus mit einer frühen Technologiekritik: "Mehr als über alles Erstaunliche hat man sich nun darüber zu wundern, daß der Mensch göttliche Natur erfinden und sie herstellen konnte. Da nun also unsere Ahnen (...) ungläubig waren und sich nicht dem Kult und der göttlichen Religion zuwandten, erfanden sie die Kunstfertigkeit, Götter herzustellen. Mit dieser nun erfundenen Kunstfertigkeit verbanden sie das für die Natur der Materie passende (technische) Können und wandten es gleichzeitig an und beschworen, da sie ja Seelen nicht herstellen konnten, die Seelen der Dämonen und Engel und brachten sie in die Bilder hinein (...), wodurch die Götterbilder die Kraft haben konnten, Gutes und Böses zu tun."[2]

Apophänie und Pareidolie

Das Bild, 1976 von der Sonde "Viking I" aufgenommen, zeigt die Oberfläche des Mars. Die Felsformation erinnert an ein Gesicht und wurde fälschlicherweise als ein Monument interpretiert, das nicht menschlichen Ursprungs ist.

Im antiken Animatismus, der Gegenstände und natürliche Vorgänge belebte, wurden optische und akustische Phänomene wie das Rauschen des Blattlaubs oder Strömen der Bäche mit Dämonen personifiziert. Die Wahrnehmung und kognitive Interpretation von Sinnesdaten unterliegt dabei einem neurologischen Ordnungs- und Gestaltwillen, der psychologisch als Apophänie oder Pareidolie bezeichnet wird.[3] Zufällig entstandene Muster werden als Gesichter oder Stimmen anthropomorphisiert und als Zeichen höherer Mächte ausgelegt. Nicht von Menschenhand geschaffene "Bilder" und "Plastiken" finden sich in der Natur in Fels- und Wolkenformationen, mineralischen Einschlüssen, auf verbrannten Pfannkuchen oder verschmutzten Textilien. Die "höhere Macht" sendet keine Botschaften vom Himmel, sie sitzt als Dämon der Mustererkennung im Gehirn.

Der mediale Dämon

Claude Mellan, Schweißtuch der Veronika, 1649. Kupferstich, Plattengröße 42,8 x 32 cm. Graphische Sammlung Albertina Wien.

Aus der Zeit zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert sind zahlreiche künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Schweißtuch der Veronika überliefert. Sie zeugen von einer Reflexion des Künstlers und seiner Medien und thematisieren den aporetischen Akt künstlerischer Produktion. Das Spiel mit dem Prädikat "nicht von Künstlerhand hergestellt" war mehrschichtig und bezog sich auf die Ikonographie, aber auch auf das Künstlergenie und die technische Herstellungsweise. Claude Mellan schuf 1649 den Kupferstich "Schweißtuch der Veronika", der in einer Linie gestochen wurde. Die konzentrisch geführte Linie setzt auf der Nasenspitze des Christuskopfes an und breitet sich spiralförmig in an- und abschwellender Stärke ohne Unterbrechung zum Bildrand aus, worauf die Inschrift "formatur unicus una, non alter" (Der Eine wurde durch die Eine geformt, kein Anderer) verweist. "Non alter" ist doppeldeutig und verweist im Sinne der Vera icon auf das Antlitz Christi, aber auch auf die "geniale" technische Fertigkeit des Künstlers. Die Linienführung erinnert an die Schwingungsrille einer Schallplatte und antizipiert technische Aufzeichnungsverfahren. Die Darstellung reflektiert die medialen Bedingungen des Acheiropoíeton, das semiotisch gesprochen nicht symbolisch oder ikonisch ist. In diesem Sinne scheint der Stich auf die von Charles Sanders Peirce eingeführte semiotische Kategorie des Indexikalischen zu rekurrieren. Der Künstler generiert in einem halbautomatischen Verfahren eine Linie, die sich wie eine physikalische Schwingungsspur in die Platte graviert. Das Physikalische eines Oszillogramms und das Metaphysische einer höheren Macht treffen sich im Medium des Künstlers. Dieser chiasmischen Kreuzung entspringt bis heute das Dämonische medialer Bilder, die vom besessenen Genie bis zur algorithmischen Generierung reichen.

Buchdeckel von William Henry Fox Talbots The Pencil of Nature, London 1841.
Plate X - Haystack aus William Henry Fox Talbots The Pencil of Nature, London 1841.

Mit der Entwicklung technischer Bildgebungsverfahren sind Acheiropoíeta alltäglich gewordene Wunder der Technik. Der Titel des 1842 erschienen Buches The Pencil of Nature von William Henry Fox Talbot bringt den Paradigmenwandel auf den Punkt. Nicht der Künstler, sondern Naturgesetze haben ihre Hände im Spiel. Der Dämon der Kreation senkt sich von der metaphysischen Transzendenz des Göttlichen in die Immanenz der Apparate. Nicht von Menschenhand verweist hier auf die technische Präzision indexikalischer Bilder, die wie Talbot argumentiert, dem Duktus des Künstlers in Genauigkeit und Geschwindigkeit weit überlegen sind. Wie die Vera Icon zeugen Fotografien von Wahrheit. Im Bildkommentar zur zehnten Platte schreibt William Henry Fox Talbot in The Pencil of Nature: “One advantage of the discovery of the Photographic Art will be, that it will enable us to introduce to our pictures a multitude of minute details which add the truth and reality of the representation, but which no artist would take the trouble to copy faithfully from nature. Contenting himself with a general effect, he would probably deem it beneath his genius to copy every accident of light and shade (…) it is well to have the means at our disposal of introducing these minutiae without any additional trouble, for they will sometimes be found to give an air of variety beyond expectation to the scene represented.”

Einzelnachweise

  1. Vgl. Philipp Seeböck, Die liebe Gottesmutter im Gnadenbilde zu Absam, Innsbruck 1897.
  2. Das Corpum Hermeticum, übers. u. hgg. v. Carsten Colpe und Jens Holzhausen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 309ff.
  3. Der Begriff Apophänie wurde 1958 vom deutschen Neurologen Klaus Conrad eingeführt, um eine zufällige Erscheinung, die neuronal mit Bedeutung aufgeladen wird, zu beschreiben.

Literatur

Hans Belting, Bild und Kult, München 2000.