Demos

Aus Daimon

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Die etymologische Beziehung zwischen Daimon und Demos (griech: Staatsvolk) gibt Anlass für unterschiedliche Interpretationen. Der Daimon organisierte und überwachte in der griechischen Gemeinde als staatliches Prinzip das Zusammenleben. Jeder griechischen Polis wurden Gottheiten zugeordnet, die als poliades bezeichnet wurden. Die poliades beschützten die Stadt und sorgten unter den Bewohnern für Eudämonie, d.h. für sozialen Frieden. Sie regelten das ethische, politische und religiöse Zusammenleben der Menschen im Sinne eines summus bene. Demokratie zielt folglich auf Eudämonie durch eine "dämonische" Verhasstheit der Gemeinschaft. Da einzelne Menschen beziehungsweise Herrscher zum Missbrauch von Souveränität neigen, verwaltet und regelt mythisch gedacht ein dämonischer Schutzgeist alle sozialen und politischen Belange, säkular interpretiert eine Verfassung. In Nomoi (713 c - 714 a) erläutert Platon den dämonischen Staat: "Indem nämlich Kronos einsah, daß (...) keine menschliche Natur, wenn sie unumschränkt alle menschlichen Angelegenheiten verwalte, ein Übermaß von Übermut und Ungerechtigkeit zu vermeiden imstande sei; indem er also das erwog, setzte er damals als König und Herrscher über unsere Staaten nicht Menschen, sondern Dämonen (…)." Dämonen wandeln sich in der Demokratie vom individuellen Daimonion eines Sokrates zu Wächtern (kybernetisch formuliert zu einem Governor des Staates, wobei ihnen die Rolle einer regelnden Funktion innerhalb der Gemeinschaft zukommt.

Bruno Latour stellt Demos und Dämon gegenüber, indem er das Spaltende und Trennende im Dämonischen betont, das es in der "Dingpolitik" zu überwinden gilt. Die etymologische Verbindung zwischen Dämon und Teufel, die er zitiert, entspricht aber nur entfernt dem griechischen daímōn: "Durch irgendeinen verblüffenden Dreh der Etymologie hat es sich ergeben, daß diesselbe Wurzel den beiden Zwillingsbrüdern Dämon und Demos Leben geschenkt hat: und diese beiden stehen mehr miteinander im Krieg als er je zwischen Eteokles und Polyneikes wütete. Das Wort "demos", das die Hälfte des vielgerühmten Worts "Demo-kratie" ausmacht, wird heimgesucht vom Dämon, ja vom Teufel, denn sie teilen die gleiche Wurzel, das indoeuropäische da-, und es bedeutet teilen, entzweien. Der Dämon stellt eine so schreckliche Bedrohung dar, weil er entzweit. Und der Demos stellt eine so willkommene Lösung dar, weil er ebenfalls entzweit. Ein Paradox? Nein, es rührt daher, daß wir durch so viele widersprüchliche Bindungen so entzweit sind, daß wir uns versammeln müssen."[1]

Jane Benett plädiert in ihrer vitalistischen Anerkennung einer "Ding-Macht" auf eine Neuperspektivierung politischer Theorie. Die Sphäre menschlicher Subjektgemeinschaften erweiternd benötigt es ein komplexeres Konzept von Demos[2] und eine "radikalere Theorie der Demokratie"[3], die allen Materialitäten, ihren Dynamiken und vitalen Kräften gerecht wird. Demokratie beschränkt sich demnach nicht auf menschliche Akteure, sondern inkludiert ein komplexes Gefüge belebter und selbst unbelebter Objekte.

Demokratie im Sinne einer neuen Daimonologie öffnet und entwickelt sich politisch über "dḗmos" hinaus zu "hólos" und wird zu einer "Holokratie".

Einzelnachweise

  1. Bruno Latour, Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005, S. 36.
  2. Jane Benett, Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge, Berlin 2020, S. 69.
  3. Jane Benett, "In Parliament with Things", in: Radical Democracy. Politics Between Abundance and Lack, hrsg. v. Lars Tønder und Lasse Thomassen, Manchester 2005, S. 142.