Stil

Aus Daimon

Stil versus Manier

Im Mittelalter bezeichnete Stil Phänomene der Sprache und Schrift, maniera jene der Kunst.[1] In der Renaissance, wo die bildenden Künste an Ansehen gewannen und sich von der handwerklichen Tradition der artes mechanicae lösten, eignete sich maniera besser als Stil die Originalität, Genialität und Virtuosität eines Künstlers und seines Werks zu charakterisieren. Während in maniera die individuelle Hand des Künstlers steckt, zitiert Stil den anonymen Griffel des Autors und erinnert an ein Werkzeug, das mechanisch ein Regelwerk zur Ausführung bringt. Die Ablöse der Maniera durch den Stilbegriff erfolgte aber aus gegensätzlichen Gründen; die Kunst sollte von jedem Verdacht der Determiniertheit befreit werden.

Bei Vasari wurde maniera zum Schlüsselbegriff, der die Herstellung eines Kunstwerks von Idee und Konzept (concetto) über Entwurf und Zeichnung (disegno) bis zum fertigen Kunstwerk abdeckte. Der Transformationsprozess war bei Vasari von Regeln gesteuert, die der Künstler zu erlernen, zu beherrschen und weiter zu entwickeln hatte. Die Quelle für Idee und Konzept speiste sich aus einem Reservoir der Natur und des Geistes, aus dem der Künstler eine Auswahl zu treffen und für die materielle Umsetzung die richtigen handwerklichen Rezepturen zur Anwendung zu bringen hatte. Obgleich maniera die Originalität und individuelle Handschrift des Künstlers in den Vordergrund stellte, klang bei Vasari eine Fabrikation und mechanische Herstellbarkeit künstlerischer Werke an. Maniera konnte als Maschine gedacht werden, die Kunst nach automatisierten Regeln hervorbringt. Wenn Vasari etwa die Kuppel des Doms zu Florenz als "erstaunliche Maschine" bezeichnete, assozierte man später nicht Perfektion und Harmonie, sondern Wiederholbarkeit und Standardisierung. Diese Nähe zum Maschinellen führte im 18. Jh. zur endgültigen Ablöse der maniera durch den Stil, um u.a. die Kunst von der Menschenunwürdigkeit der Fabrik und den Auswirkungen der sich abzeichnenden industriellen Revolution abzusetzen. Denis Diderot bringt diesen Diskurs in der Gegenüberstellung der "Maschine Raffael" und der "Seele Raffael" auf den Punkt:

"Wenn ich hier einen Becher Würfel hätte, ich diesen Becher umwerfen würde, und sie sich alle auf den gleichen Punkt herumdrehen würden, würde dieses Phänomen Sie sehr erstaunen?

- Sehr.

- Und wenn all diese Würfel präpariert wären, würde das Phänomen Sie dann immer noch erstaunen?

- Nein.

- Jetzt die Anwendung, Abbé. Diese Welt ist nur eine Anhäufung von Molekülen, die auf unendlich verschiedene Weisen präpariert sind. Es gibt ein Gesetz der Notwendigkeit, das sich in allen Werken der Natur vollzieht, ohne Absicht, ohne Anstrengung, ohne Intelligenz, ohne Fortschritt, ohne Widerstand. Würde man eine Maschine erfinden, die Bilder produzierte wie diejenigen von Raffael, wären diese Bilder dann immer noch schön?

- Nein.

- Und die Maschine? Wenn sie gemein wäre, wäre sie so wenig schön wie die Bilder.

- Aber, nach Euren Prinzipien, ist da nicht Raffael selbst diese Bildermaschine?

- Das ist wahr. Aber die Maschine Raffael ist niemals eine gemeine gewesen; aber die Werke dieser Maschine sind nicht ebenso gemein wie die Blätter der Eiche; aber wir gehen aus einer natürlichen und fast unüberwindbaren Neigung davon aus, daß diese Maschine einen Willen, eine Absicht, eine Intelligenz, eine Freiheit hat. Stellen sie sich Raffael ewig vor, unbeweglich vor der Leinwand, notwendig und unaufhörlich malend. Multiplizieren Sie diese Nachahmungsmaschinen allüberall. Lassen Sie die Bilder in der Natur entstehen wie die Pflanzen, die Bäume und die Früchte, welche ihnen als Modell dienen würden; und sagen sie mir, was aus Eurer Bewunderung würde. Ich war dort angelangt, als ein Westwind über das Land fegte und uns in einen dichten Staubwirbel einhüllte. Der Abbé wurde davon vorübergehend blind; während er sich die Augen rieb, fügte ich hinzu: 'Dieser Wirbel, der Ihnen als ein Chaos zufällig zerstreuter Moleküle erscheint, nun, lieber Abbé, dieser Wirbel ist ebenso vollkommen geordnet wie die Welt.'"[2]

Während die "Maschine Raffael" für Nachahmung und Kopie steht, verspricht die "Seele Raffael" eine Sublimierung der Natur. Die Maschine ist Teil der "res extensa", die Seele dagegen Kern der "res cogitans". Jede handwerkliche Perfektion ohne rechten Stil galt ab dem 18. Jahrhundert als maniriert. Der Stil wurde zum Inbegriff der Formfindung und des künstlerischen Ausdrucks menschlicher Wesensart samt Transzendenzversprechen. Obgleich etymologisch in maniera die menschliche Hand und im Stil ein technisches Werkzeug steckt, invertiert sich die Konnotierung der Begriffe. Es drängt sich die Frage auf, ob mit der aufkommenden Industrialisierung es einer Distanzierung der Kunst von der Menschenunwürdigkeit und dem Schmutz der Maschinen und Fabriken bedurfte. Dass ein technisches Gerät gegenüber der menschlichen Hand seit Winckelmann den Sieg errungen hat, ist Ironie.

Mit den Avantgarden diversifiziert sich der Epochenstil zum Individualstil und wird in Folge über Strategien von Werbung und Marketing zum Versprechen der Selbstverwirklichung und Identitätsfindung durch Waren und Konsum.

Von der Maniera zum Programm

Der von Maniera und Stil markierte Diskurs erweist sich bis heute von Interesse, da sich in ihm und seiner Rezeptionsgeschichte im Wesentlichen drei Vorstellungen von Genie und Dämonie spiegeln: Der Künstler ist erstens ein "religiöses" Medium, dessen sich höhere Mächte vergleichbar einem Avatar bedienen, um zu inkarnieren und Botschaften zu materialisieren; zweitens ist der Künstler eine begnadete und auserwählte, oft messianische Figur des "Bürgerlichen", die aus der Masse herausragt und für ein souveränes Subjekt steht; drittens arbeitet der Künstler als ein Ingenieur, der über die Anwendung von Rezepten, Regeln und Algorithmen Kunst programmiert und sich heute kybernetischer und informationstechnischer Dämonen bedient. Die drei Kategorien beinhalten unterschiedliche und widersprüchliche Funktionen, die von einem Transzendenzversprechen über die Frage individueller Freiheit bis zur Logik des Generativen ab der Moderne reichen.

Seitdem in der frühen Moderne die Vorstellung einer in Zeit, Kunst und Künstler intrinsischen Stilentelechie brüchig geworden ist, avanciert der Stilwandel zu einer verbreiteten Kulturtechnik. Die alte Dualität zwischen Form und Inhalt scheint damit überwunden, da neue Inhalte unmittelbar mit neuen Formen und Materialien einhergehen. Während bei den Avantgarden jeder neue Stil oder Ismus an die Idee von Fortschritt und Evolution gekoppelt war, bedienen sich Gegenwartskünstler der Stile wie einst der Maler seiner Farben. Dennoch bindet der Kunstmarkt seine Bedürfnisse an die Etablierung eines Wiedererkennungsfaktors, der zur wichtigsten Funktion des Stils geworden ist. Der Stil wird "Trademark" und "Label", ein kapitalistischer Dämon der Werke Künstlernamen zuteilt.

Maniera und Stil als Vorschriftenkatalog gedacht, lassen sich in ein Programm überführen. Abraham Moles und Max Bense ergründeten dies in ihrer Informationsästhetik und Georg Nees oder Frieder Nake schufen Computerprogramme, die künstlerische Stile simulierten. Im Vordergrund steht bis heute nicht die Bemühung die Kunst zum Programm zu machen - wie es zum Teil das Manifest intendierte -, sondern das einzelne Kunstwerk, um Komplexität und Kontingenz formal zu steigern. Das Programm im Unterschied zum Stil entspricht einem im Kunstwerk innewohnenden Metabolismus oder Daimon, der das Werk von einer vollendeten, in sich selbst ruhenden Arbeit zu einem "Werkel", einer in Fluss befindlichen Idee wandelt.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Willibald Sauerländer, "Von Stilus zu Stil. Reflexionen über das Schicksal eines Begriffs, in: Ders., Geschichte der Kunst - Gegenwart der Kritik, hg. v. W. Busch, W. Kemp, M. Steinhauser, M. Warnke, Köln 1999, S. 256 - 276.
  2. Zit.n. Ursula Link-Heer, "Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil", in: H.U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt a. Main 1986, S. 106.