Daimonologie
Aus Daimon
Dämonisch: das Wort ist durch so viele Sinne und Deutungen gewandert, seit es aus der mythisch-religiösen Uranschauung der Antike bis in unsre Tage kam, daß es not tut, ihm eine persönliche Deutung aufzuprägen.[1]
Stefan Zweig
Seit der Antike hat der Begriff DAIMON Aktualisierungen erfahren, die ihn über die traditionelle Dämonologie und den Geniebegriff hinaus zu einem Schlüssel für kulturelle Organisationsprozesse machen. In ihm finden sich die zentralen Fragen von Ordnung und Unordnung, auf die Prinzipien von der Thermodynamik über die Biologie bis zum Zusammenleben von Gemeinschaften, insbesondere moderner Gesellschaften beruhen. Mythos, Politik, Wissenschaft und Technologie sind in der DAIMONOLOGIE verknüpft und spiegeln das Bemühen, Chaos zu bannen und Kultur im Kampf gegen Unordnung und Entropie zu entwickeln.
Seit Maxwells Dämon wird deutlich, dass die modernen Dämonen technischer Natur sind. Sie verlagern sich aus Religion und Magie in die Apparate und Netzwerke, um über ihre Verdinglichung und systemische Latenz wiederum vom Denken und Handeln Besitz zu ergreifen. Dämonen operieren in kybernetischen Regelkreisen, Computern und Servern; sie steuern, kontrollieren und überwachen automatisiert den technischen, zunehmend auch den sozialen Alltag. Sie lenken unbewusst Aufmerksamkeit und Verhalten, verweben unmerklich Individuen mit Artefakten und medialen Umwelten. Die antike Vorstellung des Dämons als Zu- und Verteiler des Schicksals aktualisiert sich gegenwärtig in technischen, politischen und ökonomischen Prozessen, in denen die gerechte Verteilung von Informationen, Ressourcen und Freiheiten zur Herausforderung der Zukunft geworden ist. Die Dämonen des 21. Jahrhunderts sind integraler Bestandteil von intelligenten Maschinen, Automatisierung und Vernetzung; sie liegen der Messung, Organisation und dem Management natürlicher und technischer Prozesse zugrunde. Umso komplexer Gesellschaften werden, desto größer die Anzahl der im Hintergrund arbeitenden Dämonen, die es zu erkennen, zu durchschauen und neu zu entwerfen gilt. Die Frage, ob Dämonen zum Kultur-Heros oder zum genius malignus, zum überwachenden und strafenden Geist werden, nimmt die DAIMONOLOGIE zu ihrem Ausgang.
Der Thesaurus der DAIMONOLOGIE versteht sich als narrativer Knoten, der historische und aktuelle Fäden aufnimmt, verknüpft und mögliche Zukunftsszenarien spinnt. In ihm treffen sich Psyche und Gesellschaft, Mythos und Technologie, Kunst und Politik. Insbesondere menschliche Gemeinschaften und ihre Beziehungen zu Dingen und Umwelten sowie die transformierenden Produktivkräfte innerhalb herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse werden unter dem Aspekt der DAIMONOLOGIE perspektiviert.
Einzelnachweise
- ↑ Stefan Zweig, Der Kampf mit dem Dämon, Frankfurt a. Main 2007, S. 13.