Phantasie

Aus Daimon

Thomas Rainer


Platon und Aristoteles

Als Phantasmata werden bei Platon (Philebos 39a-40a) jene Abbilder der Dinge bezeichnet, welche die Phantasie malt, um Gemeintes und Gesagtes losgelöst von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung zu vergegenwärtigen. Diese inneren Bilder, die Begehren und Lust ermöglichen, werden in Theätet 191d-e Siegelabdrücken in Wachs verglichen und als Inhalt der Erinnerung definiert. Aristoteles greift die Metapher auf, um den Sehvorgang zu beschreiben. Bestandteil dessen sei nicht nur ein passiver sondern auch aktiver Prozess der Bildgenerierung. Der Sinneseindruck – das ist jene Bewegung, die mittels der Luft vom wahrgenommenen Objekt zum Auge verläuft – werde nicht auf direktem Weg ins Gedächtnis gestempelt, sondern als Phantasma, als ein von der Phantasie abgemaltes Vorstellungsbild dorthin vermittelt.

Hugo von Sankt Victor und die mittelalterlichen Aristoteleskommentatoren

Die mittelalterlichen Aristoteleskommentatoren entwickelten auf Grundlage dieser Theorie eine ausgefeilte medizinisch-physiologische Beschreibung der Bildverarbeitung im menschlichen Gehirn, worin der Phantasie eine zentrale Stellung zugeordnet wurde:

Im Körper kann es nichts Erhabeneres und der geistigen Natur näher Gelegenes geben als das, worin, außerhalb der sinnlichen Empfindung und oberhalb von dieser, die Einbildungskraft ihren Ursprung hat. Jene Realität ist so erhaben, daß es über ihr nichts anderes geben kann als die Vernunft. Die feurige Naturkraft, welche von außen eine Form empfangen hat, nennt man sinnliche Empfindung; dieselbe Form, die ins Innere geleitet worden ist, heißt Einbildung. Wenn nämlich die Form des auf dem Wege der Sehstrahlen von außen aufgenommenen Sinnendings von der Natur zu den Augen zurückgeleitet und von diesen aufgenommen wird, dann besitzt man den Sinneseindruck. Wenn die Form in der Folge durch die sieben Augenhäutchen und die drei Säfte hindurchgegangen und endlich gereinigt und ins Innere geleitet worden ist, erreicht die Form das Gehirn und erzeugt dort die Einbildung. Die Einbildung, die durch den vorderen Teil des Kopfes zu dem zentralen wandert, kommt mit der Substanz der Vernunftseele in Berührung und ruft die Unterscheidung hervor, nunmehr derart geläutert und subtil, daß sie sich ohne Vermittlung mit dem Geist selbst vereinigen kann.

Hugo von Sankt Victors Lob der Phantasie in seiner Schrift De unione corporis et spiritus verschmilzt in der Aristoteles und seinen Kommentatoren Avicenna und Averrroes angelehnten Beschreibung des Sehvorgangs das Erbe der antiken Humeralmedizin, der Viersäftelehre, mit der vom Neoplatonismus übernommenen Vorstellung des Pneumas.

Die neoplatonische Theorie pneumatischer Wahrnehmung - der spiritus phantasticus'

Der Lufthauch, der als Lebensgeist körperliche und unkörperliche Welt verbindet, entwickelte sich bei den spätantiken Anhängern der Lehren Platons zu dem zentralen Instrument der Wahrnehmung. In seiner Abhandlung über die Träume mit dem Titel De insomniis bezeichnet Synesios das „vorstellende Pneuma“ (phantastikón pneuma), welches das mittelalterliche Latein spiritus phantasticus nennt, als das „umfassendste Sinnesorgan und die erste Verleiblichung der Seele“, „Grenzland zwischen Vernunft und Unvernunft, von Körperlichem und Unkörperlichem und gemeinsames Gebiet für beides“, mittels dessen das Göttliche mit der Materie in Berührung trete. Die Phantasie gleiche – um Giorgio Agambens Paraphrase des Synesios zu zitieren (Stanzen, Zürich/Berlin 2005, S.153) – einem Schiff, auf dem die Ur-Seele von den Himmelssphären herabgleitet, um sich mit der körperlichen Welt zu vereinigen. Im Hintergrund dieser Metapher steht die neoplatonische Dämonologie, die eine Reihe Luftwesen (unter ihnen auch Amor/Eros) annimmt, welche zwischen oberen und unteren Sphären vermitteln. Ihr Luftleib ändere chamäleonhaft seine Gestalt, je nachdem, was den Dämon gerade bewege. Wie sich diese Bewegung in die umgebende Luft spiegle, so auch ins Auge, wodurch sich die Dämonen unserer Phantasie bemächtigen, uns Träume und Weissagungen, göttliche Erleuchtung ebenso wie Trugbilder eingeben. Da die gesamte Wahrnehmung gemäß dieser Theorie unter dem Einfluss des Pneumas erfolgt, ja die körperliche Welt in dem vom spiritus phantasticus geleiteten Wahrnehmungsprozess fließend in die unkörperliche übergeht, erscheint die moderne Trennung zwischen sinnlicher und übersinnlicher Erscheinung aufgehoben.

Das Verhältnis von Phantasie und Vernunft in Christentum und Aufklärung

Der Gefahr dieser Öffnung, dem Verfließen von äußerem Trug und innerer Wahrheit, begegnet die christliche Anthropologie mit dem radikalen Zweifel an der Wirklichkeit aller Welterscheinung. Von diesem archimedischen Punkt erfolgt Descartes konsequenter Rückzug in die hinterste Kammer des Gehirns, zur Vernunft, deren bei Hugo von Sankt Victor noch lebendige Verbindung zur Phantasie verdunkelt wird. In der perspektivisch konstruierten Wirklichkeit verliert das Phantasma seinen legitimen Platz im Wahrnehmungsvorgang, wird zum unsauberen Anhängsel irrationaler Machination, das die wissenschaftliche Welterkenntnis ausscheidet, um es dem künstlerischen Genie und seiner genialischen Eingebung – im romantischen Kult des Subjekts mit viel Pathos beschworen – zu überlassen.

Das triebgesteuerte Phantasma

Eine evolutionsbiologische Rekonstruktion des Sehvorgangs, wie sie Ernst Gombrich in seiner Untersuchung illusionistischer Malerei ansatzweise versucht, deutet dagegen die Überwindung dieser strikten Trennung von Phantasie und Vernunft im Wahrnehmungsprozess an, indem unter Hinweis auf die Generierung triebgesteuerter Bilder (notwendig etwa zur prospektiven Einschätzung eines Fluchtwegs) auf einen schon bei Avicenna nachweisbaren Topos der mittelalterlichen Lehre pneumatisch-phantastischer Bildverarbeitung im Gehirn hingewiesen wird: die beurteilende Kraft [estimativa], untergebracht im hinteren Teil des mittleren Hohlraums …[der in der mittelalterlichen Anatomie des Gehirns traditionell der Phantasie zugewiesen wird] erfaßt die sinnlich nicht wahrnehmbaren Intentionen, die sich in den einzelnen Sinnendingen befinden, so die Kraft, durch die das Schaf beurteilen kann, daß es vor dem Wolf fliehen muß… Zur Rekonstruktion dieser triebgesteuerten Prospektion erweist sich eine mit der mittelalterlichen Theorie der Liebe verbundene Metapher Hugo von Sankt Victors zur Beschreibung des Verhältnisses von Vernunft und Phantasie als überaus glücklich:

Wenn die Vernunft sie aufnimmt durch bloße Betrachtung, ist die Einbildung für sie wie ein Gewand, das um sie herum hängt und sie einhüllt, so daß sie es leicht ablegen und ausziehen kann. Wenn die Vernunft sie dagegen genießerisch auskostet, wird die Einbildung für sie wie eine Haut, so daß sie sich von ihr nicht mehr lösen kann ohne Schmerzen, weil sie ihr in Liebe verhaftet ist.

Für die mittelalterliche Medizin leidet der Liebeskranke an einem Defekt des Einschätzungsvermögens, ein Defekt freilich, der ihn, wie die Liebeslyrik des dolce stil nuovo des 13. Jh.s beweist, zum höchsten Glück und zur Gottesschau emporheben kann.