Quêtelet'scher Dämon
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Inhaltsverzeichnis
Adolphe Quêtelet
In Anlehnung an die Himmelsmechanik und Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte dessen Zeitgenosse und vermutlich auch Schüler Adolphe Quêtelet (1796 - 1874) die „Soziale Physik“. Laplace, der den gesamten Weltmechanismus auf mathematische Funktionen zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quêtelet zu seiner Figur des „l’homme moyen“, dem berechenbaren Durchschnittsmenschen. Während Laplace von der Vorstellung ausging, dass ein Dämon Lage, Position und Geschwindigkeit aller im Kosmos vorhandenen physikalischen Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt messen müsste, um vergangene und zukünftige Zustände determinieren zu können, ging Quêtelet in seiner „mécanique sociale“ von menschlichen Teilchen aus. In seiner 1835 erschienen „Physique Sociale“ beschreibt Quêtelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens: „Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als einen Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist; die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen.“ Dies bringt ihn zum Schluss: „Mit den moralischen Fähigkeiten steht es (...) ungefähr ebenso wie mit den physischen, und man kann sie unter der Voraussetzung schätzen, daß sie im Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen.“[1] Quêtelet sammelte, korrelierte und visualisierte statistische Daten in Form von Graphen und Karten, indem er beispielsweise die Verbrechensraten oder die Schulbildung kartographierte. Er organisierte 1846 die erste Volkszählung in Belgien, 1851 den ersten internationalen Statistik-Kongress. Die von Quetelet entwickelte Körpermassenzahl - auch Quetelet-Index oder Body-Mass-Index - ist bis heute gebräuchlich.
Den Ansatz statistische Gesetze der Mathematik und Physik auf die Sozialwissenschaften umzulegen, setzte im 20. Jh. der italienische Physiker Ettore Majorana (geb. 1906, verschollen 1938) in dem 1942 posthum veröffentlichten Artikel „Il valore delle leggi statistiche nella fisica e nelle scienze sociali" (Die Rolle statistischer Gesetze in Physik und Sozialwissenschaften) fort.[2] Im Unterschied zu Laplace und in Abwendung von der klassischen Mechanik schlägt er Modelle aus der Quantenmechanik und das Konzept der Entropie vor, um komplexe soziale System zu beschreiben.
Mit der Etablierung des Internet als massenmediales Phänomen findet das Sammeln und Korrelieren seinen vorläufigen Höhepunkt. Quêtelets „mécanique sociale“ aktualisiert sich in der universellen Beobachtung von Nutzerverhalten und dem gezielte Auslesen von Profilen. Daten zur Bestimmung sozialer Trends werden von privaten Unternehmen und staatlichen Institutionen online erfasst und ausgewertet, was mit Big Data seinen Überbegriff gefunden hat.
Soziographie und Demographie
Der inzwischen selten gebrauchte Begriff Soziographie wurde vom niederländischen Soziologen Rudolf Steinmetz Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt und in Deutschland von Ferdinand Tönnie übernommen, der über die Errichtung „soziologischer Observatorien“ die Einarbeitung empirisch ermittelter und statistisch aufbereiteter Fakten für die systematische Soziologie forderte. Aufbauend auf die empirische Sozialforschung eines Quêtelet ging es um die Zusammenführung quantitativer und qualitativer Verfahren zur Sichtbarmachung von Sinnstrukturen. Quêtelets „Moralstatistik“ oder jene in Großbritannien und in den USA gebräuchlichen „Surveys“ und „Spot maps“, die primär amtlich erhobene Daten in Beziehung setzten, wurden durch Methoden ergänzt, um „die Lücke zwischen den nackten Ziffern der Statistik und den zufälligen Eindrücken der sozialen Reportage“ auszufüllen.[3] Dafür brauchte es eine „integrale Soziologie“ (Lazarsfeld), die statistische Daten und Techniken des Samplings mit Interviews, Beschreibungen von Einzelfällen und speziellen Untersuchungen verknüpfte, die psychologische und habituelle Parameter wie etwa die Gehgeschwindigkeit betrafen.
Scoring
Die universelle Berechenbarkeit des Menschen durch statistische und demografische Methoden realisierte sich im 20. und 21. Jh. durch digitale Technologien und dem zunehmenden Grad ihrer Vernetzung. Dämonen der Messung, Kontrolle und Überwachung akkumulieren Daten einzelner Personen, die zur Schicksalsfrage für die Zu- und Verteilung von Rechten, Informationen, Krediten, Arbeit, Versorgung usw. werden. Deutlich wird dies beim sogenannten Scoring, der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten, bei der bis zu mehreren hundert Merkmale eines Kunden mit vergleichbaren Fällen in Beziehung gesetzt werden. Daraus berechnen Computerprogramme mittels spezieller Algorithmen einen statistischen Wert, der vereinfachend meist zwischen null und hundert liegt. Der Score dient der Einschätzung, wie zahlungswillig bzw. zahlungsfähig der potentielle Kunde ist. Verbraucher werden vor Vertragsabschlüssen gerastert und in solvente und vermeintlich insolvente sortiert. Für das Scoring sind demografische Daten, die Anzahl von Girokonten, laufende Leasingverträgen, Pkw-Bestand, Gesundheit, Konsum- und Freizeitverhalten, Strafanzeigen und Wohnumfeld ausschlaggebend. Ganze Stadtviertel werden über das sogenannte „Redlining" markiert und bestimmen über die Punkteverteilung den Score einer Person mit. Die Anhäufung von Daten durch private Unternehmen schafft neue Formen von Überwachungs- und Klassengesellschaft. Scoring wird zum sozialen Dämon, der über die Kreditwürdigkeit, den Wert und das Schicksal von Menschen entscheidet. Wer den falschen Score besitzt, verliert etwa den Anspruch auf einen Telefonvertrag. Insbesondere Tochterfirmen großer Konzerne, die über Datensätze zahlreicher Kunden verfügen - wie SAF, eine Tochter der Deutschen Telekom, Infoscore und Informa, Töchter von Bertelsmann - bedienen den Markt.
Einzelnachweise
- ↑ Adolphe Quêtelet, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914, S. 103 und 141.
- ↑ Scientia, Bd. 36. S. 55.
- ↑ Paul F. Lazarsfeld, „Vorspruch zur neuen Auflage“, in: Maria Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt 1975, S. 15.
Weblinks
Biography of Lambert Adolphe Jacques Quetelet
Thomas Feuerstein, Der soziographische Kick
Andrea Naica-Loebell, Die neue Physik des Gruppenzwangs