Genius

Aus Daimon

Antike

Genius der im Kastell Niederbieber stationierten Truppen, 239 n. Chr.
Philipp Otto Runge, Die Genien auf der Lichtlilie, Bleistift und Kreide auf Papier, 1810

Der Genius (lat. "Erzeuger", "derjenige/dasjenige der/das (er)zeugt, vom Verb "genere" bzw. "gignere" (zeugen, erzeugen) abgeleitet) personifiziert im römischen Glauben die dem Menschen innewohnende zeugende Kraft. Durch den Genius entsteht das Individuelle einer Person, indem er ihre Triebe und ihren Charakter bestimmt. Er formt die Persönlichkeit, schenkt die Kraft zur Zeugung von Nachkommen und fungiert als inneres Wirkungsprinzip. Wie der griechische Daimon steuert der Genius das Schicksal und vermittelt zwischen den Göttern und den Menschen. Der griechischen Vorstellung nach erhält jeder Mensch bei der Geburt von den daimones (δαίμονες) einen "Genius" oder "schöpferischen Geist" zugeteilt.[1] Vergleichbar einem Schutzengel wacht er von der Geburt bis zum Tod über den Sterblichen und führt ihn durchs Leben. Während der Daimon bei den Griechen neutral und zum Teil negativ besetzt war, da er für die Kontingenz, d.h. für unbestimmte, unkontrollierbare und unberechenbare Möglichkeiten stand, überwiegt bei den Römern das beschützende und leitende Prinzip, das den Menschen glücklich macht. Wer auf seinen Genius hört, strebt der Glückseligkeit und dem Erfolg entgegen. Einen unbeschädigten Genius ("genius indemnatus") zu besitzen, bedeutet mit sich im Reinen zu sein und seinem Lebensinstinkt zu folgen. Bei den Römern hieß dies, gut zu trinken, ausgiebig zu speisen und großzügig zu sein, denn nur auf diese Weise konnte dem Genius gehuldigt werden ("indulget genio"). Ein puritanische Lebensweise missfiel und man lief Gefahr den Genius misszustimmen ("genio sinistro"). Wie beim griechischen Daimon handelt es sich beim Genius nicht um den bewussten Teil des menschlichen Ich, sondern um einen Aspekt der Anima (griech. Psyche), die im Gegensatz zum Animus (griech. Thymos), für das vitale, unbewusste Prinzip des Menschen stand und nach antiker Vorstellung im Kopf des Menschen wohnt. Der Thymos haust in der Brust und ist im Gegensatz zur Anima bzw. zum Genius sterblich. Nach dem Tod lebt der Genius als körperloses Wesen weiter und wurde von den Römern als Larva oder "umbra" (Schatten) bezeichnet.

Ursprünglich fungierte der Genius für Mann und Frau, später nur noch für Männer, wo er als Medium und Schnittstelle zu Jupiter angesehen wurde. Während die Männer bei Jupiter schwuren und sich über ihren Genius mit ihm verbanden, opferten die Frauen der Göttin Juno als Inbegriff der Gebärkraft. Besonders an Geburtstagen brachte man dem Genius Speise- und Räucheropfer. Der Genius wurde weiters beim Eid als Schwurzeuge angerufen und die Schwurhand dabei zum Bezeugen der Wahrheit an die Genitalien gelegt.

Später wurde der Genius wie in der christlichen Tradition als Schutzgeist oder Schutzengel angesehen, der über das persönliche Schicksal, die Familie, das Haus oder einen bestimmten Ort wacht. Diesbezüglich glaubte man, dass ein Genius auch öffentlichen Einrichtungen oder dem Staat innewohnt. Der Ausdruck Genius loci bezieht sich auf den Schutzgeist eines bestimmten Ortes und verkörpert die an einen bestimmten Ort gebundenen Kräfte. In der Antike stellte man Genien zunächst als Schlangen oder als bärtige gepanzerte Männer mit Füllhorn und Zepter dar, später meist als geflügelte Lichtgestalten, die u. a. als Träger von Porträtmedaillons und Inschriftentafeln dienten, beispielsweise auf Konsulardiptychen. Bei Objekten aus dem Spätmittelalter sind Genien vor allem auf Schatullen aus der Embriachi-Werkstatt zu finden.

Ingenieur und Maschine

Das erzeugende Prinzip des Genius wandert mit dem Beginn der Neuzeit aus der Transzendenz in die Materie und wird zum Motiv der Maschine. Bereits im 12. Jh. wurde aus "ingenium" im Französischen "engin", zum einen im traditionellen Sinn von "intelligence" oder "ésprit", zum anderen im Sinn von "machine de guerre". In Folge wurde der Konstrukteur einer Maschine zum "ingénieur". Im Englischen findet "engine" als Synonym zu "machine" im 14. Jh. seinen Eingang, im Deutschen wird der Begriff "Ingenieur" erst im 17. Jh. gebräuchlich, wo er ab dem 18. Jh. zum Schlüsselbegriff der anbrechenden Industriekultur wird. Der Genius sitzt seitdem in der Maschine als materialisierter, technischer Geist; die Fabrik wird zum Ort des Ingenieurs, zum Genius loci der Maschine.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Wilhelm Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 1991 (9. Aufl.), S. 181. Nach Gemoll leitet sich davon der Zusammenhang mit Zeugung und Entstehung her sowie all jene Begriffe mit der Silbe "gen" wie Genital, Genie, Gen, Generation oder Ingenieur; weiters lat. gens "das Volk" und genus für "Geschlecht" und "Knie"; auch natus und die Ableitungen: Natur, Natalität, Naivität, Nativität, Nation, Knie und auch König mit der Bedeutung "aus vornehmen Geschlecht".


Literatur

H. Kunckel, Der römische Genius, Heidelberg 1974.

Weblinks

Roland Müller, Genius, Ingenium