Illusionismus

Aus Daimon

Thomas Rainer


Kunsthistorischer Terminus

Als kunsthistorischer Terminus geht der Ausdruck auf Franz Wickhoff (1895) zurück, der damit den aus der hellenistischen Kunst abgeleiteten Stil kräftiger Pinselstriche in den spätantiken Miniaturen der sog. „Wiener Genesis“ charakterisiert. Ein prominentes Nachleben fand die Bezeichnung bei Ernst Gombrich, welcher sein Kunstgeschichte und Gestaltpsychologie kombinierendes Hauptwerk „Art and Illusion“ übertitelte. Gombrich stellt die Wahl dieses Titels in den Kontext einer Passage von Platons Staat.

Platon

Politeia, X, 602-603 religiert die nachahmenden Künste in die niedrigen Bereiche der menschlichen Seele; stellt ihr Spiel mit der Unsicherheit des optischen Eindrucks, welches der Täuschung der Sinneswahrnehmung unterliegt, der auf festem Wissen basierenden Messung entgegen. Dem Naserümpfen Platons vor dem Können der antiken Bühnenmaler, deren Werke er in die Nähe von Zauberei und Hokuspokus rückt und aus dem idealen Staat verbannt, begegnet Gombrich mit dem Versuch die strikte Trennung von vernunftbasierter Messung und sinnesgetriebener Kunstanschauung in einer Rekonstruktion der evolutionsbiologischen Grundlagen des menschlichen Sehvorgangs aufzulösen.

Evolutionsbiologische Grundlagen

Zu Hilfe nimmt er dabei jene antiken Maleranekdoten (wie jene von Parrhasios und Zeuxis, in denen der Maler als Trickster agiert), welche von so täuschend echten Bildern berichten, dass die Natur selbst sie für wahr gehalten hätte, was die Reaktion verschiedener Tiere auf ihren Anblick zeigen sollte: der Sperling, der nach den gemalten Trauben pickt, der Hengst, welcher die gemalte Stute bespringt, die Biene, welche die gemalte Blume besucht… Zu Recht erkennt Gombrich in diesen Schilderungen die Nähe zu den Experimenten der von Konrad Lorenz begründeten Verhaltensforschung, die nach dem angeborenen Trigger sucht, der eine bestimmte Reaktion eines Tieres in einem die Natur simulierenden Setting auslöst. Betrachtet man das Malerlob der hellenistischen Anekdoten unter diesem Gesichtspunkt, liegt die Leistung des Künstlers weniger in einer möglichst exakten Kopie des Vorbilds, sondern vielmehr in der effizienten Simulation des Triggers, der das besondere Verhalten des Tieres auslöst. Der illusionistische Künstler öffnet nach Gombrich das Schloss zu den angeborenen oder erlernten Reaktionsweisen der „vegetativen Seele“, und sein Können zeigt sich in der Anwendung des richtigen Reizmusters zum Abrufen eines biologischen oder kulturellen Programms, das die Reaktion des Betrachters an den gewünschten Effekt des Werkes bindet.

Droge und Magie

Aflatun (Platon) betäubt die wilden Tiere, Madhu Khanazad, Mughal, 1595. London, British Library

Die Abhängigkeit, die so entsteht, liegt dem Vergleich des Künstlers mit einem Drogendealer oder Magier zugrunde. In dem gemeinsam mit R. Gregory herausgegebenen Sammelband Illusion in Nature and Art (London 1973) schreibt Gombrich: “Plato would certainly not have objected to discussing drugs in conjunction with the illusion of art. It was a commonplace of ancient criticism that what mattered in art were the ‘effects’ and these were as close to the action of drugs as they were to that of magic. Orators and poets, musicians and even painters were celebrated as ‘spell binders’ who were able to arouse or to calm the emotions. Here, too, the ‘animal experiment’ was never far from the critic's mind. Orpheus who could attract and charm the wild beasts was the model artist.” Vgl. dazu die Miniatur "Aflatun (Platon) betäubt die wilden Tiere", die im Hofatelier Akbars in Lahore 1595 entstand. Illustriert wird Platons Wettstreit mit Aristoteles, von dem der persische Dichter Nizami berichtet. In der dem Muster hellenistischer Künstlerkonkurrenz folgenden Schilderung wird Aflatun (Platon) mit orphischen Eigenschaften ausgestattet und den Dämonenbeschwörern Salomo und David gleichgestellt. Interessant ist die Verwendung der Orgel als von Platon gebautes Instrument um seinen Konkurrenten Aristoteles vorzuführen. Es ist ihre pneumatische Wirkung, die es dem Philosophen erlaubt, die Phantasma der wilden Tiere dem Prinzip universeller Harmonie unterzuordnen. Als Beherrscher ihrer Triebe agiert Platon (Orpheus) dabei mit ähnlichen Mitteln wie der Luftdämon Amor (Eros).

Amor hereos und die mittelalterliche Theorie des Phantasmas

Ohne diesen Gedanken selbst zu vertiefen, bewegt sich Gombrichs Rekonstruktion der biologischen Abhängigkeit des Betrachters vom illusionistischen Kunstwerk in den Bahnen der bereits in der Antike formulierten Theorie des Phantasmas, dessen einer Droge verwandte Wirkweise die mittelalterliche Medizin am Beispiel des Liebeskranken exemplarifiziert.

Eingebung eines Phantasmas durch einen pneumatisch wirkenden Dämon mittels eines Blasbalges, Ausschnitt aus dem Stich Der Traum des Doktors von Albrecht Dürer, 1497/1498.

Nach Manie und Melancholie nennen die mittelalterlichen Traktate, die sich mit Geisteskrankheit befassen, stets „amor, qui hereos dicitur“. Wer an diesem tödlich verlaufenden Übel leidet, krankt am Bild der Geliebten – das sich gemäß der mittelalterlichen Sehtheorie als körperliche Form von ihrer Gestalt ablöst und in der Sehkammer des Gehirns wie in Wachs abgeformt wird. Aufgrund eines Defekts des „Einschätzungsvermögens“ (das ist jene von Gombrich als für das biologische Überleben unabdingbare angesehene Fähigkeit zur Beurteilung eines einzelnen Sinneseindrucks im Gesamtkontext, oder anders ausgedrückt die Instanz, die ihm seine jeweilige Bedeutung – auch in einem erlernten, also kulturellen Kontext – zuweist) formt sich das Bild der Angebeteten im Kopf des Kranken so, dass ihm ihr Phantasma als einzig mögliche Widerspiegelung des höchsten Glücks auf Erden erscheint. Sein ganzes Verhalten wird in der Folge von dieser Illusion gefangen gehalten, die ähnlich wie bei Gombrich auf einem physiologisch beschreibaren Triggereffekt beruht. Die mittelalterliche Medizin verbindet ihn mit dem von der neoplatonischen Dämonologie ererbten Theorem pneumatischer Wirkung.

Pneumatische Dämonen

Wie Giorgio Agamben in dem zum Teil bereits 1974 entstandenen Buch Stanze zeigen konnte, versteckt sich hinter dem Ausdruck amor hereos der antike Heros, den die neoplatonischen Denker als ein von Luft geformtes Geisterwesen ansahen, dessen Aufgabe es sei zwischen göttlicher und menschlicher Welt zu vermitteln. Apuleius rechnet der Klasse dieser Luftdämonen an erster Stelle Amor (griech. Eros) zu, dessen ursprünglich positive Mittlerfunktion das Christentum ins Negative verkehrte. Seine Wirkung beschreibt der Kirchenvater Psellos wie folgt: „…wie Luft in Anwesenheit von Licht Form und Farbe annimmt, um sie an jene Körper zu vermitteln die von Natur aus begabt sind, sie aufzunehmen (wie es etwa Spiegel tun), so nehmen auch die Körper der Dämonen innerlich und eingebildet Figuren, Farben und Formen an, um sie unserem Geist zu vermitteln und uns auf diese Weise zu Taten und Gedanken anzutreiben und Formen und Erinnerungen in uns wachzurufen. Sie erzeugen so sowohl bei denen, die schlafen, wie auch bei denen, die wachen, Bilder von Wollust und Leidenschaft, rufen Hass hervor und nähren in uns ungesunde und verwerfliche Liebschaften.“