Avatar

Aus Daimon

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Inkarnation: Dämonen des Fleisches

Vishnu und seine 10 Erscheinungsformen als Avatar

Avatar bezeichnet die virtuelle Präsenz eines Users in einer Multiuser-Domain und geht auf das Sanskritwort avatāra („der Herabsteigende“, wörtl.: "Abstieg", von ava- "hinab" und tṝ "überqueren") zurück. Im Hinduismus bezeichnet Avatar eine vom Himmel auf die Erde herabgestiegene Gottheit, die menschliche oder tierische Gestalt annimmt. Vishnu hat zehn Avatare, die von einem Fisch (Matsya) über einen Mann mit Löwenkopf (Narasimha) bis Buddha und Kalki reichen. Vishnu inkarniert, um mit Menschen und ihren Wirklichkeiten zu interagieren und sie vor dem Bösen zu bewahren. Insbesondere die Erscheinung Buddhas - auch in Form bildlicher Darstellungen und Skulpturen - soll böse Dämonen in die Irre führen. Im Unterschied zur christlichen Trinitätslehre, in der zwischen Gott, Heiliger Geist und Jesus Christus als Fleisch Gottes unterschieden wird, vereingt der Avatar alle drei Kategorien. Der Avatar ist gleichzeitig Fleisch, Medium und Gott. Die Vorstellung der Verfleischlichung und Materialisation einer göttlichen oder dämonischen Energie und Information findet sich auch außerhalb hinduistischer Traditionen in zahlreichen Mythologien und im Animismus, wo sie von der Besitznahme oder Besessenheit bestehender Wesen und Dinge bis zur Schaffung zuvor nicht vorhandener Objekte reichen. Da der Avatar als inkarniertes Wesen zwischen einer immateriellen Gottheit und irdischer Materie vermittelt, steht er in seiner Wesenheit der Idee des Demiurgen bei Platon nahe. Weiters bezeichnen sich Gurus, im Glauben reinkarniert oder von einem Gott gesandt zu sein, als Avatar. Im Christentum und Islam werden gelegentlich Christus und Mohammed als Avatare bezeichnet.[1]

In der griechischen Philosophie kann Sokrates und sein Daimonion in Analogie mit dem Avatar gesehen werden. Der Dämon inkarniert in Sokrates und umgekehrt verleiht Sokrates dem Dämon sein Aussehen. Desweiteren beruhen zahlreiche Beschwörungsrituale in Naturreligionen sowie im katholischen Exorzismus auf Vorstellungen dämonischer Inkarnationen. Im Exorzismus muss der im Fleisch wohnende Dämon wie ein Parasit aus dem Körper vertrieben werden.

"Mein Leben ist wie ein Avatar": Dämonen der Entfremdung

Im französischen Sprachgebrauch findet sich der Begriff Avatar seit dem 19. Jh., wo er eine Metamorphose, Seelenwanderung, einen negativen Wandel oder das Auftauchen des Zufalls konnotiert.[2] In den französischen Arbeiterkämpfen fand der Begriff gelegentlich zur Beschreibung der Entfremdung durch tayloristische Produktionsbedingungen Verwendung.[3]

Cyberspace: Dämonen der Immersion

Avatare der MUD Habitat
Avatare flanieren durch Second Life

Der ursprüngliche Mythos der Inkarnation einer göttlichen Information und Energie erfährt in digitalen Räumen seine Umkehrung. Die reale, materielle Person entledigt sich ihres fleischlichen Körpers, um in immateriellen Informationsräumen zu interagieren. In virtuellen Computerwelten fungiert der Begriff Avatar als ein Stellvertreter für einen physischen Benutzer. Im Computerspiel Ultima IV wurde Avatar 1985 erstmals als Name für einen Spielcharakter eingeführt. In Folge entwickelten sich Avatare als Identifikationsfiguren in Computer- und Rollenspielen. In Habitat (1987), ein für Lucas Film bzw. Commodore 64 programmiertes Online-Rollenspiel (MUD) mit einem zweidimensionalen grafischen Interface, wurden die virtuellen Repräsentanten der Spieler von Chip Morningstar and F. Randall Farmer als Avatare bezeichnet.[4] In den USA wurde Habitat von Quantum Link betrieben und kurz darauf an Fujitsu nach Tokio verkauft, wo es bis 1990 online war und bis zu 10.000 Spieler bzw. Avatare zählte. Ob die Übersetzung des Begriffes Avatar aus dem Mythos in digitale Räume bereits einige Jahre zuvor von Programmierern des US-amerikanischen Militärs erfolgte, um grafische Stellvertreter in Schlachtensimulationen zu benennen, ist ungesichert. Neal Stephenson popularisierte den Begriff in seinem Cyberpunk-Roman Snow Crash (1992), wo Avatare im Metaverse - eine Virtual-Reality-Variante des Internet - agieren. Die Avatare repräsentieren im Metaverse über ihre Stellvertreterfunktion hinaus den sozialen Status der Hacker. Je detailreicher der Avatar, desto größer die Fähigkeit und das Ansehen der Person. In einer vergleichbaren Bedeutung findet sich Avatar als Superuser in Unix Betriebssystemen. Stephensons Metaverse diente u. a. der Internet-3D-Infrastruktur Second Life als Vorlage.

Popkulturelle Avatare: Dämonen des Spektakels

Avatar, Figur aus dem Marvel Comic The Futurians, 1983
Kyoko Date, 1996. Erster virtueller Pop-Star, Hori Production, Tokio

Das Phänomen des Popstars unter den Bedingungen einer digitalen Ökonomie beschreibt William Gibson in seinem 1996 erschienenen Roman Idoru. Die virtuelle Persönlichkeit der Protagonistin Rei Toei konstituiert sich darin als ein Amalgam künstlicher Erinnerungen, die sich aus den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Fans im Internet speisen. Ihre Existenz als künstliche Intelligenz beruht auf einer stetig wachsenden Datenbank aus Statistiken des Begehrens. Die Schnittstelle ihrer Persönlichkeit spiegelt die Schnittmenge eines "kondividuellen" Nenners, und ihr visuelles Interface im Netz und in Form von Holographien im realen Raum erinnert an eine vom Marketing geschriebene Ikone. Rei Toei verkörpert den Star als überindividueller kollektiver Avatar, der den Gesetzen einer Gesellschaft des Spektakels gehorcht. Als invertiertes Individuum entspricht sie damit genau Guy Debords Starbegriff eines Agenten des Spektakels: "Der Agent des Spektakels, der als Star in Szene gesetzt wird, ist das Gegenteil des Individuums, der Feind des Individuums (...). Der Star des Konsums zeigt, obwohl er äußerlich die Repräsentation verschiedener Persönlichkeitstypen ist, daß jeder dieser Typen gleichen Zugang zur Totalität des Konsums hat und in ihm gleichermaßen sein Glück findet."[5] Gibsons Vision eines virtuellen datenanthropomorphen Stars war 1996 längst popkulturelle Wirklichkeit. Hori Productions entwickelten 1995 Kyoko Date, deren "Persönlichkeitsstruktur" einem durchschnittlichen, weiblichen japanischen Teenager entsprach. Ganz im Sinne von Debords "Star des Konsums" konstruierte sich Kyoko Date aus den Konsumgewohnheiten ihrer Fans und repräsentierte das Produkt intensiver Marktanalyse und empirischer Trendforschung. Hori Productions erkannte, dass Lifestyle heute von der Wahl des richtigen Produkts bestimmt wird und nur die geeignete Schnittstelle­ zwischen den Angeboten der Industrie und den Bedürfnissen der Konsumenten können den Verkauf gewährleisten. Bei Date waren es 50.000 Exemplare des Hits "Love Communication". Diese Vorteile, die sich nicht nur auf Pixelkreationen wie Kyoko Date, Lara Croft oder Webbie Tookay beschränken lassen, entdeckte Phil Spector Anfang der 1960er Jahre, indem er zahlreiche Girl Groups lange vor den Spice Girls wie Avatare vermarktete. The Crystals, fünf von Spector engagierte Frauen, erfuhren beispielsweise erst aus den Medien, dass einer "ihrer" Songs, den sie selbst gar nicht kannten, an der Spitze der Hitparade stand. Der Hit He's a Rebel, der größte Erfolg in der Geschichte der Crystals, wurde 1963 vom 22-jährigen Spector mit Darlene Love aufgenommen und unter dem Label "The Crystals" vermarktet. Im Gegensatz zu den Crystals, die physisch real existierten, waren andere Stars, die Spector "entdeckte", völlig fiktiv und existierten nur auf Plattencovers. War bei Debord der Star Ausdruck eines kollektiven Identifikationsmodells, das nur hintergründig als entpersonalisiertes Projekt fungierte, operieren die neuen, mit neoliberalen Plug Ins hochgerüsteten Stars offenkundig im Dienste der Ökonomie. Speziell virtuelle "Stars" oder Models sichern die Berechenbarkeit der Image- und Markenbildung für ein Produkt, sind pflegeleichter und kostenverträglicher als Stars aus Fleisch und Blut und gehorchen widerspruchslos den Gesetzen des "Hire and Fire". Unter diesen Bedingungen agieren "Dämonen des Spektakels" als Zu- und Verteiler der Aufmerksamkeit, die zum einen von oben herab (top-down manufactured) oder von unten herauf im Sinne von Joshua Gamsons "hyperdemocratic celebrity" geschaffen werden.[6] Formate wie Casting Shows und Web 2.0 suggerieren dem Publikum eine demokratische Macht, über das Schicksal "ihrer" Stars entscheiden zu können.

Gravatar: Atopische Kontrolldämonen

Ein Gravatar (Global Recognised Avatar) ist ein für den Benutzer global verfügbarer "Avatar", der mit der E-Mail-Adresse des Benutzers und deren MD5-Codierung verknüpft ist. Gravatar ermöglicht dem Benutzer in Blogs und anderen Internetdiensten zusammen mit einem Avatarbild sein Benutzerprofil zu hinterlassen, ohne sich neu zu registrieren. Damit werden persönliche Daten den Betreibern zur Verfügung gestellt, die Einblick in die Aktivitäten des Users gewähren und für Werbezwecke oder behördliche Ermittlungen missbraucht werden können.

Einzelnachweise

  1. Arthur Schopenhauer vermutete den Ursprung des Neuen Testaments in Indien und bezeichnet Christus als Avatar. Vgl. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, 15, "Über Religion", §179.
  2. Vgl. Théophile Gaultier, Avatar, Frankfurt a. Main 1985. Gaultiers 1856 erschienener Roman erzählt von einem Mann, der in den Körper eines Nebenbuhlers schlüpft, um die Liebe einer Frau zu gewinnen. Die Frau bemerkt die Entfremdung und die Schranken der Sprache erweisen sich als unüberwindliche Barriere.
  3. Vgl. Ethnologie francaise, L'Avatar, 1998/2.
  4. Vgl. Chip Morningstar, F. Randall Farmer, "The Lessons of Lucasfilm's Habitat". In: Michael Benedikt (Hg.), Cyberspace. First Steps, Cambridge 1991, S. 273ff.
  5. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S.49.
  6. Vgl. Joshua Gamson, Claims to Fame. Celebrity in Contemporary America, Berkeley 1994.


Weblinks

Chip Morningstar and F. Randall Farmer, The Lessons of Lucasfilm's Habitat

Der Künstler als Avatar