Kybernetik

Aus Daimon

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Steuermannskunst

Zu Ehren der beiden Lotsen Nausithoos und Poeax, die Theseus nach Kreta führten, um den Minotaurus zu töten, wurden im antiken Griechenland "Kybernetien" zur Feier der Steuermannskunst abgehalten. Der Begriff Kybernetik wurzelt in kybernétes, der griechischen Bezeichnung für Steuermann, woraus im lateinischen gubernare und im Englischen governor wurde. Platon verwendet κυβερνητική (kybernētikḗ) im Sinne von Steuerkunde im Kontext politischer Selbstverwaltung in Alkibiades I. Plutarch bezeichnet den Lotsen eines Schiffes als κυβερνήτης (kybernetes) und der Apostel Paulus benutzt κυβέρνησις (kybérnēsis) im 1. Korintherbrief (1 Kor 12,28 EU) im Sinne der „Fähigkeit zu leiten“, woraus sich in der katholischen Kirchenterminologie kybernesis als Leitung eines Kirchenamtes ableitet.[1] Die Verbindung zwischen der Navigation eines Schiffes und der Lenkung eines Staates sollte 1947 durch Norbert Wiener eine entscheidende Erweiterung erfahren: die Kybernetik wurde zur Wissenschaft der "Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine".[2] Obgleich der Begriff cybernétique bereits 1834 von Ampère im Dictionnaire de la Langue Française angeführt wurde, um eine Wissenschaft von den Mitteln der Regierung zu definieren, erfuhr die Kybernetik erst durch Norbert Wiener ihre heutige Bedeutung, die mit Hermann Schmidt auf den Punkt gebracht, das Ziel verfolgt: "Alles regeln, was regelbar ist, und das noch nicht Regelbare regelbar machen."[3]

Dämonen der Information und Entropie

Wie einst Theseus ging es Wiener zunächst um die Frage, wie im Krieg ein feindlicher "Minotaurus" am besten zu besiegen wäre. Die erste Frage der Kybernetik zielte aber nicht auf eine gute Landung: das Verhalten von Piloten, die Granaten ausweichen, sollte kalkulierbar werden, um aus der aktuellen Position des Flugzeugs das zukünftige Ziel des Sperrfeuers ableiten zu können.[4] Über die Beschäftigung mit Rückkopplungen zwischen Mensch und Maschine rückten Steuerungsfragen in den Vordergrund, die vom Regelkreis eines Thermostats über elektronische Schaltungen bis hin zu kognitiven und psychologischen Prozessen reichten. Wiener verweist in seinem Vorwort auf den für die Kybernetik richtungsweisenden Dämon des britischen Physikers James Clerk Maxwell: "Der Begriff des Informationsgehalts berührt in natürlicher Weise einen klassischen Begriff in der statistischen Mechanik: den der Entropie. Gerade wie der Informationsgehalt eines Systems ein Maß des Grades der Ordnung ist, ist die Entropie eines Systems ein Maß des Grades der Unordnung; und das eine ist einfach das Negative des anderen. Dieser Gesichtspunkt führt uns zu einer Anzahl von Betrachtungen, die den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik betreffen, und zu einer Untersuchung der Existenz des sogenannten Maxwellschen Dämons. Solche Fragen tauchen unabhängig bei der Untersuchung der Enzyme und anderer Katalysatoren auf, und ihr Studium ist wesentlich für das klare Verständnis fundamentaler Phänomene der lebenden Substanz wie Stoffwechsel und Fortpflanzung."[5] Aus diesem Grund schlug Heinz von Foerster den Maxwellschen Dämon als Schutzpatron der Kybernetik vor, um das kybernetische Paradigma von Regelungs- und Steuerungstechnologien zu versinnbildlichen.[6]

Turing-Dämon

Die Steuerung von Systemen beinhaltet die Frage nach dem Dämon als Zu- und Verteiler von Information, Energie und Materie, von Ordnung und Unordnung. Wäre Maxwells Dämon technisch realisierbar, wäre er ein künstlicher Entropieverzögerer, vergleichbar allen natürlichen Organismen. Kybernetik erweist sich als eine negentropische Kulturtechnologie, die die Lücke zwischen dem Gedankenexperiment des Maxwell'schen Dämons und den metabolistischen Dämonen des Lebens zu schließen sucht. Für eine Wissenschaft, die sich der Regelung, Entropieverzögerung sowie des Rechnens und Ordnens nach Algorithmen verschrieben hat, wird der Maxwell'sche Dämon zum universellen Anherrn aller Maschinen. Den Nachweis der funktionalen Gleichartigkeit des Maxwell'schen Dämons mit einer Turing-Maschine bringt Heinz von Foerster auf den Punkt: "What I would like now to demonstrate is that this machine - whose name is, of course, the 'Turing Machine' - and Maxwell's demon are functional isomorphs or, to put it differently, that the machine's computational ccomptence and the demon's ordering talents are equivalent. The purpose of my bringing up this equivalence is, as you may remember from my introductory comments, to associate with the notians of disorder, order, and complexity, measures that permit us to talk about different degrees of order, say: 'More order here!' or 'Less order there!', and to watch the processes that are changing these degrees."[7] Aus dem vergleicht schließt Heinz v. Foerster, dass Ordnungsprobleme auf Rechenprobleme reduziert werden können. Da wir aber auf die Vermittlung eines Symbolsystems oder eine Sprache angewiesen sind, entscheiden wir selbst, ob Ordnung oder Unordnung vorliegt. Und da Sprachen kulturelle Erfindungen sind, ist nach Heinz v. Foerster auch die Unterscheidung zwischen Unordnung und Ordnung eine erfundene Konstruktion.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Karl Steinbuch, Automat und Mensch. Auf dem Weg zu einer kybernetischen Anthropologie, Berlin u.a. 1971, S. 322.
  2. Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1992. Titel der Originalausgabe: Cybernetics or control and communication in the animal and the machine, Boston 1948.
  3. Hermann Schmidt, "Denkschrift zur Gründung eines Institutes für Regelungstechnik (1941)", in: Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaften, 2. Bd., 1961, Beiheft, S. 1-14.
  4. "Bei gleichbleibender Lage wird ein Flugzeug möglichst geradeaus fliegen. Zu der Zeit jedoch, wo die erste Granate explodiert, ändert sich die Lage, und der Pilot wird möglicherweise Zickzack- oder Kunstflüge machen oder in irgendeiner anderen Weise Ausweichbewegungen machen." Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1992, S. 31.
  5. Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1992, S. 38.
  6. Vgl. Hermann Rotermund, Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen. Heinz von Foerster: Ein Portrait des Mitbegründers der Kybernetik
  7. Heinz Von Foerster, Understanding understanding: essays on cybernetics and cognition, Wien, New York 2003, S. 278. Der Vergleich der Turing-Maschine mit dem Maxwellschen Dämon verläuft folgendermaßen: Erster Schritt: Maschine liest ein Symbol - Dämon beobachtet ein Molekül. Zweiter Schritt: Maschine vergleicht das Symbol mit dem internen Zustand - Dämon vergleicht die Geschwindigkeit des Moleküls mit einem internen Maßstab. Dritter Schritt: Maschine bearbeitet das Symbol bzw. das Band - Dämon arbeitet an der Öffnung, d.h. öffnet oder schließt sie. Vierter Schritt: Maschine verändert ihre internen Zustände - Dämon seinen internen Maßstab. Fünfter Schritt: Maschine und Dämon gehen zurück zu Eins.