Daimon des Lebens

Aus Daimon

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Künstliches Leben

In der abendländischen Kulturgeschichte finden sich drei zentrale Traditionen der künstlichen Herstellung von Leben: Die handwerkliche, technomorphe Tradition zielt auf die Produktion mechanischer Automaten und Androide; die auf Sprache und Information basierende logomorphe Tradition auf kabbalistische Golems; die alchemistische, biomorphe auf biologische Organismen und Homunkuli, die spontan aus der Erde und ihrer Naturkräfte hervorgehen. Letztere spiegelt sich in Geschichte und Mythos der Urzeugung.

Generatio spontanea

Bis weit ins 19. Jahrhundert herrschte in den Naturwissenschaften der Glaube an die Entstehung von Mikroorganismen, Würmern und Insekten aus Schleim, Erde oder verwesendem Abfall. Die Verwandlung toter Materie in Leben wurde als Urzeugung, Generatio spontanea (spontane Zeugung) oder Abiogenese (Urzeugung) beschrieben und erinnert an die vielfältigen Schöpfungsmythen: Chnum formte die ersten Menschen aus Nilschlamm; Prometheus modellierte nach Ebenbild der Götter den Menschen aus Lehm; Adam leitet sich von hebräisch „ādāma“ (Erde) ab; im Koran schafft Allah den ersten Menschen, indem er aus Lehm Körper formt und ihnen seinen Geist einhaucht.[1] Selbst vom Menschen geschaffene Wesen wie der Golem (hebräisch: Klumpen, formlose Masse) wurden aus Lehm gestaltet und über sprachliche Codes und geistige Kraft animiert.

Die naturwissenschaftliche Vorstellung der Urzeugung wurzelt in der antiken Philosophie eines Thales, Demokrit oder Aristoteles, auf den der Begriff "Archigonie" (Urzeugung) zurückgeht. Als Beispiel einer Generatio spontanea galt seit dem Mittelalter die sogenannte Madentheorie, die das spontane Auftreten von Maden in verwesendem Fleisch annahm. Weiters wurden Würmer, Amphibien, Aale oder Mäuse mit einer Spontanzeugung in Verbindung gebracht. "Niederes" Getier brauchte demnach keine göttliche "vis vitalis", weshalb es ikonographisch dem Teuflischen nahe stand. Während "höherwertiges" Leben einen göttlichen Funken zur Schöpfung benötigte, reichte für die Schaffung "niederen" Lebens von Schädlingen, Würmern, Insekten, Amphibien oder Reptilien eine im Erdboden und Schmutz im Überfluss vorhandene dämonische Energie.

Johann Frantz Griendel von Ach beschreibt in seiner Micographia Nova (1687) die künstliche Herstellung eines kleinen Frosches mittels Maitau.

Nach Johan Baptista van Helmont (1580 - 1644) verlangte die Urzeugung von Mäusen eine "Versuchsanordnung" bestehend aus einem mit verschwitzter Unterwäsche und feuchtem Weizen gefüllten Krug. Nach 21 Tagen bildet sich ein Ferment, das den Weizen durchdringt und Mäuse zum Vorschein bringt.[2] Obgleich Mediziner wie William Harvey (1578 - 1657) und Francesco Redi (1626 - 1697) die Vorstellung einer Generatio spontanea bezweifelten und für das menschliche Auge unsichtbare Keime und Eier vermuteten, gewannen Urzeugungstheorien nach der Erfindung des Mikroskops neue Anhänger in Form der Heterogonisten. Die spontane Entstehung von Mikroben wurde erst durch Louis Pasteur (1822 - 1895) ausgeschlossen, der 1864 einen von der Französischen Akademie der Wissenschaften ausgesetzten Preis zur eindeutigen Bestätigung oder Widerlegung des Problems gewann. Pasteur zeigte - wie zuvor der steirische Naturforscher Franz Unger in einer Publikation zur "Generatio originaria"[3]-, dass Fäulnis und Gärung nicht Organismen hervorbringen, sondern umgekehrt Verwesungsprozesse auf Mikroorganismen zurückzuführen sind.

In der Naturphilosophie der Romantik sollte die Trennung zwischen Organischem und Anorganischem sowie zwischen Vitalismus und Mechanismus aufgehoben und durch eine ganzheitliche Sichtweise überwunden werden. Die romantische Theorie der Organisation lebender Systeme wollte klären, wie auf der Grundlage einer einheitlichen Schöpfungsordnung Leben "aus jenen gestaltlosen Kräften und Meeren", d.h. aus der Unordnung und dem Chaos hervorgehen können.[4] Nach Schelling existiert keine "unorganische" Natur, da alles miteinander verbunden ist und sich gegenseitig bedingt. Dieser Auffassung folgend entwickelte Lorenz Oken (1779 - 1851) ein Natursystem, das alle Aspekte des Natürlichen nondualistisch in Beziehung setzte. Auf der Erschaffung der Grundmaterie "Generatio originaria" basiert nach Oken der zweite Prozess der "Generatio aequivoca", bei dem sich Grundbausteine, "Infusorien" genannt, lösen und zu neuen organischen Komplexitäten verbinden. Wie bei Carl von Linné (1707 - 1778), der mikroskopische Wesen als Chaos infusorium seinem System eingegliedert hatte, galten sie als Beweis für eine ständig stattfindende Urzeugung. Das Infusorium dachte Oken als Urbläschen, Urzelle oder Samen, aus dem sich alles Leben aufbaut.[5] Im Urschleim schlummern Infusorien wie im Prometheus -Mythos die Samen der Götter und bereiten das fruchtbare Ursubstrat, aus der die gesamte organische Welt der Pflanzen und Tiere hervorgeht.[6]

Chemische Evolution

Millers Apparatur zur Simulation präbiotischer Synthese von Aminosäuren.
Papierchromatographie zur Analyse des Reaktionsgemisches. (Abb. aus Miller 1953)

Charles Darwin, der der traditionellen Vorstellung einer Generatio spontanea nichts abgewinnen konnte, spekulierte 1871 in einem Brief an den Botaniker Joseph Hooker über die Möglichkeit eines chemischen Ursprungs des Lebens: "It is often said that all the conditions for the first production of a living organism are present, which could ever have been present. But if (and Oh! what a big if!) we could conceive in some warm little pond, with all sorts of ammonia and phosphoric salts, light, heat, electricity, etc., present, that a protein compound was chemically formed ready to undergo still more complex changes, at the present day such matter would be instantly devoured or absorbed, which would not have been the case before living creatures were formed." In einem warmen Teich mit Ammonium, Phosphorsalzen, Licht, Hitze und Elektrizität vermutete Darwin die Ursuppe, aus der sich die Bausteine des Lebens geformt haben könnten. Seit Darwin wird Evolution mit der Zunahme an Ordnungen durch Zufall, Selektion und Zeit in Verbindung gebracht: Unwahrscheinliche Zustände, sprich Ordnung und Information, werden über kombinatorische Möglichkeiten in der Zeit wahrscheinlich, ohne dass dafür Begriffe wie 'Idee', 'Geist', 'Form', ' Entelechie', 'göttliche Vorsehung' oder 'Design' bemüht werden müssen. Die Annahme, dass der Evolution lebendiger Organismen eine präbiotische chemische vorausging, schließt an Darwins Modell von Evolution durch Kombinatorik und Selektion an und beschäftigte vor allem im 20. Jh. Chemiker und Mikrobiologen. Bereits 1913 gelang Walter Löb die Bildung der Aminosäure Glycin aus Methan, Wasserdampf und Ammoniak. Der russische Biochemiker Alexander I. Oparin arbeitet ab den 1920er Jahren über den Ursprung des Lebens, aber erst seine 1938 auf englisch erschienene Publikation The Origin of Life machte seine Ansätze über die Grenzen der Sowjetunion hinaus bekannt. Als im Herbst 1951 der Nobelpreisträger Harold C. Urey an der Universität Chicago einen Vortrag über die präbiotischen Bedingungen auf der Erde hielt, spekulierte er über eine reduzierende Atmosphäre, die bei der Entstehung von Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben könnte. Im Gegensatz zur heutigen Atmosphäre, die von Stickstoff, Sauerstoff und Kohlendioxyd dominiert wird, setzte sich nach Urey die frühe aus Wasserstoff, Ammoniak und Methan zusammen. Dem Vortrag wohnte der Chemiestudent Stanley L. Miller (1930 - 2007) bei, der ab Herbst 1952 unter Aufsicht seines Professors Harold Urey mit experimentellen Versuchen zur Simulation einer frühen Erdatmosphäre begann. In den insgesamt drei Versionen seiner Versuchsanordnung simulierte er die Uratmosphäre in einem Glaskolben und ließ diesen mit einem zweiten, in dem Wasser erhitzt wurde, wechselwirken. Der Wasserdampf versetzte die künstliche Atmosphäre in Bewegung und strömte in einem Rundkolben an Elektroden vorbei, die elektrische Energie in Form von Blitzen abgaben. Bereits nach einer Reaktionszeit von zwei Tagen färbte sich die Lösung gelblich und mittels Papierchromatographie ließ sich die Aminosäure Glycin nachweisen. Nach einer Woche hatten sich etwa 15 Prozent des Methans in organische Verbindungen umgewandelt und konnten fünf verschiedene Aminosäuren gemessen werden. Im Mai 1953 veröffentlichte Miller die Ergebnisse in Science.[7] Miller beschäftigte sich bis ins hohe Alter mit präbiotischer organischer Chemie und eröffnete neue Wege zur empirischen Erforschung der Entstehung des Lebens. Nach seinem Tod entdeckte Jeffrey L. Bada Millers Originalproben und fand aufgrund verbesserter Analysemethoden 14 verschiedene Aminosäuren anstatt ursprünglich fünf. In Proben einer modifizierten Versuchsanordnung, die Miller 1955 ein einziges Mal beiläufig in einer Publikation erwähnte und in der atmosphärische Bedingungen eines vulkanischen Kraters simuliert wurden, fanden sich weitere acht Aminosäuren.[8]

Durch Ergänzung und Abänderung von Millers Ursuppe - etwa durch Mineralien und Schwefel - wurden bis heute zahlreiche weitere Verbindungen synthetisiert. Andere Theorien wie die Panspermie-Hypothese gehen von der Anreicherung der Ursuppe durch Meteoriten aus. William Martin und Michael Russell gehen von der Entstehung des Lebens um Schwarze Raucher (Black Smoker) am Boden der Tiefsee aus, wo sich eine günstige Umgebung für die chemoautotrophe Evolution findet. Thomas Gold spekuliert in Biosphäre der heißen Tiefe, dass der Ursprung des Lebens seinen Ausgang in der Erdkruste genommen und zur Bildung chemolithotropher Mikroben geführt hat.[9] Die verschiedenen Ansätze konnten bis heute in kein einheitliches Modell integriert werden, sind aber bis heute Teil der Protozellenforschung und Synthetischen Biologie. Die Frage nach dem Daimon des Lebens bzw. welche Prozesse und Umwelten Materie negentropisch zu Komplexität stimulieren und die daraus entstehenden Ordnungen reproduktionsfähig machen, ist bis heute unbeantwortet und Teil der Arbeiten Some velvet morning und SOME VELVET MOURNING.


Einzelnachweise

  1. Vgl. Sure 38:71, 72 – Sad: „Als dein Herr zu Seinen Engeln sprach: ‚Seht, Ich werde den Menschen aus Ton/Lehm erschaffen, und wenn Ich ihn geformt und ihm von Meinem Geist eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder!’“
  2. Die Einführung des Begriffes „Gas“ (abgeleitet von Geist, Chaos, Gärung) geht auf van Helmont zurück. Im Zuge seiner Entdeckung der von erhitztem Holz und Kohle ausströmden Gasen sprach van Helmont in Tradition des antiken Dämonenkonzepts von einem „wilden Geist“. Das Leben beruht demnach auf chemische Prozesse, die auf "Gärung" und "gasförmige Fermente" zurückzuführen sind.
  3. Franz Unger, "Beiträge zur Kenntnis der niedersten Algenformen nebst Versuchen ihre Entstehung betreffend", Denkschr. k. Akad. Wiss., math.-naturwiss. Kl. 7, Wien 1854, S. 185-196. digitale Kopie
  4. Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, Berlin 1837, S. 62
  5. Im Lehrbuch der Naturphilosophie beschreibt Oken die Infusorien: "3181. Die niedersten Thiere fangen mit dem Wasser an, das kaum zu Schleim geworden ist; sind nichts als Körner, Bläschen, welche selbstständig umherschwimmen. Urthiere, Infusionsthierchen. 3182. Die Infusorien entsprechen dem männlichen Samen. Sie sind der Thlersamen des Planeten, das aufgelößte Thier. Tiefer kann die Thlerzeugung nicht anfangen. Der Stein, welcher sich zersetzt in gewässerten Kohlenstoff, kann nichts geringeres werden als ein Punct. Sie sind das thierlsche Keimpulver. Der Pilz ist Wurzel, die unmittelbar in Samen - Pilzstaub — sich auflößt. So sind die Infusorien Hoden, welche sich in Samen aufgelößt haben, flüssige Hoden - Hodenthiere, Samenthiere. 3183. Der Samen ist aufgelößte Punctmasse, Nervenmasse. Die Infusoriei sind empfindende Puncte, Nervenpuncte, welche alle andern Processe in dieser identischen Masse vereiniget haben. Die zerfallene Punctmasse sieht aber in der Bedeutung des Bläschen- oder Zellgewebs. Die Infusorien sind nervöse Zellen. 3184. Nervenzellen müssen in jedem Wasser entstehn, weil jedes Wasser mit der Erde und mit der Luft in Spannung ist, also jene auflößt und diese athmet. Das Wasser selbst ist ein verfaulender und athmender Schleim." Oken, Lehrbuch der Naturphilosophie, Jena 1831, S. 402.
  6. "958. Besteht die organische Grundmasse aus Infusorien, so muß die ganze organische Welt aus Infusorien entstehen; Pflanzen und Thiere können nur Metamorphosen von Infusorien seyn. 959. Ist dieses, so müssen auch alle Organisationen aus In- fusorien bestehen, und sich bey ihrer Zerstörung in dieselben auflösen. Iede Pflanze, jedes Thier verwandelt sich bey der Maceration in eine schleimige Masse; diese verfault, und die Flüssigkeit ist mit Infusorien angefüllt. 960. Das Faulen ist nichts anderes als ein Zerfallen der Organismen in Infusorien, eine Reduction des höhern Lebens auf das Urleben. 961. Die Organismen sind eine Synthesis von Infusorien. Die Erzeugung ist nichts anderes als eine Zusammenhäufung um endlich vieler Schleimpuncte, Infusorien. Es sind nehmlich die Organismen nicht schon im Kleinsien ganz und vollständig gezeichnet, präformiert enthalten; sondern nur infusoriale Bläschen, die durch verschiedene Combinationen sich verschieden gestalten und zu höhern Organismen aufwachsen." Ebenda, S. 155.
  7. Stanley L. Miller, "A production of amino acids under possible primitive earth conditions". Science 117, S. 528 - 529.
  8. Jeffrey L. Bada and Antonio Lazcano, PERCEPTIONS OF SCIENCE: Prebiotic Soup--Revisiting the Miller Experiment
  9. Thomas Gold, Biosphäre der heißen Tiefe, Wiesbaden 2000.

Weblinks

Jeffrey L. Bada, Antonio Lazcano, Prebiotic Soup - Revisiting the Miller Experiment

Interview mit Stanley L. Miller: From Primordial Soup to the Prebiotic Beach