Prometheus

Aus Daimon

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Technologie

Prometheus formt den ersten Menschen nach Vorbild der Götter. Piero di Cosimo, Der Mythos des Prometheus, 1515. Öl auf Holz, 68 × 120 cm, Alte Pinakothek München

Um Kultur zu begreifen, bedarf es Mythen und Geschichten. Wie der Mensch und in Folge Technik, Wissenschaft und Kunst in die Welt kamen, erzählt der Kulturheros Prometheus.

Bei den Griechen schlummerte der göttliche Samen im Boden. Das Leben steckte als "vis vitalis" in der Erde und musste nur in die richtige Form gebracht werden, um zu erwachen. Vergleichbar anderen Schöpfungsmythen mischte Prometheus Lehm mit Wasser und imitierte die Form der Götter.[1] Athene hauchte schließlich mit ihrem Atem den Wesen Verstand und Vernunft ein. Den zunächst hilflosen, ohne Wissen und Erfahrung ausgestatteten Menschen lehrte Prometheus technische Kunstfertigkeiten (entechnos sophia), weswegen er seit der Antike als Künstlergott (deus artifex) und in der Renaissance von Vasari als Begründer der Bildhauerkunst beschrieben wird.

In Platons Protagoras benötigt der Mensch Kulturtechnologien, weil er bei der Verteilung der Fähigkeiten leer ausging. Alle Fertigkeiten waren zuvor den Tieren zugeordnet worden und der Mensch blieb als nacktes Mängelwesen zurück. Prometheus will diesen Mangel ausgleichen und schenkt den Menschen das Feuer, das zum Katalysator für Zivilisation und kulturelle Evolution wird. Die Vorstellung des Menschen als Mängelwesen ist bis heute Bestandteil unterschiedlicher Kultur- und Medientheorien.[2] Auch Medientheorien[3], die Technik nicht als Kompensation eines Mangels, sondern als Projektion und Erweiterung menschlicher Organe und Fertigkeiten sehen, enden nach Günther Anders in einer prometheischen Scham.[4] Technologie schafft nach Anders ein Gefälle zwischen dem Mangel bzw. der Unvollkommenheit des Menschen und der stetig wachsenden Perfektion der Maschinen. Diese Scham zeigt sich nach Freud in den Kränkungen der Menschheit - von der kopernikanischen Wende über Darwins Evolutionstheorie bis zur Psychoanalyse - und steuert in Form Künstlicher Intelligenz und der Erreichung sog. Singularität - der Punkt, an dem Maschinen intelligenter als Menschen sind - auf die ultimative Kränkung zu.[5]

Nicolas-Sébastien Adam, Der gefesselte Prometheus, 1762

Nach Hesiod dienen Kultur und Technik nicht der Emanzipation vom Naturzustand. Sie befreien nicht von den Übeln, sondern entfernen die Menschen von den Göttern und der Natur und sind Ausdruck einer Dekadenz, die vom Goldenen Zeitalters wegführt. Damit wird Natur in ihrer Doppelstruktur erfahrbar, deren beschützender und nährender Charakter sich nach der Vertreibung aus dem Paradies ins Gegenteil verkehrt. In Werke und Tage beschreibt Hesiod Prometheus als Trickster, der die Götter betrügt, um den Menschen einen Vorteil zu verschaffen. Prometheus opfert für die Götter einen Stier und täuscht Zeus, indem er unter dem Fett die Knochen und unter dem Magen das Fleisch verbirgt. Als Strafe für diese List entzieht Zeus den Menschen das Feuer. Doch Prometheus holt es zurück, was ihm den Beinamen Pyrophorus (Feuerbringer) einbringt und ihn in christlicher Interpretation in die Nähe des Luzifers (Lichtträger) rückt. Als Rache für den Feuerraub schafft Hephaistos im Auftrag des Zeus Pandora, eine künstliche, verführerische Frau (das weibliche Geschlecht existierte noch nicht), zu deren verhängnisvollen Ausstattung alle übrigen Götter beitragen. Trotz Warnung des Prometheus öffnet sein Bruder Epimetheus das von Pandora mitgebrachte Geschenk in Form einer Büchse (eigentlich Tonfaß), das alle Übel der Welt und zuunterst die Hoffnung beinhaltet. Die Übel entkommen als Krankheit, Plage und Mühsal in die Welt. Und da die Übel automatoi sind, wirken sie selbsttätig und schweigend.[6] Hätte Zeus ihnen nicht die Stimme genommen, wären sie verhandelbar und wäre die Hoffnung nicht nur Illusion. Zudem wird Prometheus für seinen Frevel zu dreißigtausend Jahren Verbannung verurteilt, worüber Aischylos in Prometeús desmótes (Der gefesselte Prometheus) berichtet. Hephaistos kettet ihn an den Fels des Kaukasus, wo ihm zur Marter der Adler Ethos jeden Tag von neuem ein Stück Leber aus dem Leib reißt.

Karl Marx verlässt 1843 die Redaktion der »Rheinischen Zeitung«, die von der preußischen Zensur verboten wird. Aus Protest erscheint in der letzten Ausgabe sowie als Flugblatt die Karikatur Der neue Prometheus (1842) von Wilhelm Kleinenbroich. Der bärtige Titan wurde von den Zeitgenossen als Karl Marx identifiziert.

Einzelnachweise

  1. Ovid, Metamorphosen, Buch I, Vers 69-88.
  2. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
  3. Anzuführen sind hier Theorien von Ernst Kapp (Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, insbesondere das Kapitel "Die Organprojektion“, S. 29 ff) und Marshall McLuhan (Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964).
  4. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956.
  5. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Bd. V 1917, S. 1–7.
  6. Hesiod, Erga 103. Die aus der Büchse der Pandora entweichenden Übel werden zuweilen fälschlicherweise als böse Dämonen identifiziert. Es handelt sich aber um keine Dämonen, sondern um Keres, Töchter der Nyx. Daimones entstammen bei Hesiod dem goldenen Geschlecht und nehmen vergleichbar Engeln eine Schutzfunktion ein.