Animismus

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Animismus: Dämon der Kulturen

Die Seele (von lat. anima, Seele, Atem; griech. ánemos Wind, Hauch) als Prinzip des Lebens findet sich u.a. bei den ionischen Naturphilosophen, bei Aristoteles und den Stoikern. In Übernahme antiker Traditionen wird Animismus zu einem zentralen Begriff in der Krankheitstheorie des deutschen Alchemisten und Chemikers Georg Ernst Stahl (1659-1734). Stahl war ein Vordenker psychosomatischer Medizin, dem die Anima als zentrales Moment für die gesundheitliche Verfassung des Körpers galt. Durch Edward B. Tylor (1832-1917), der 1896 den ersten Lehrstuhl für Anthropologie an der Universität Oxford bekleidete, erfuhr Animismus seine einflussreiche kulturwissenschaftliche Prägung.[1] Tylor beschrieb mit Animismus den Glauben "primitiver Kulturen", dass alle Lebewesen und Dinge beseelt sind. In ihnen wirken verborgene Kräfte wie Geister und Dämonen, die zwischen Mensch und Natur sowie Geist und Körper vermitteln. Tylor ging es um die Klärung, wie Religionen entstanden sind und in welchem Verhältnis sie zur Wissenschaft stehen. Animismus diente als Ordnungs- und Reinigungsbegriff, um das "wilde" Denken archaischer Kulturen von Aufklärung und Rationalismus abzusetzen. Obgleich er Studien über die damalige Modeerscheinung des Spiritismus betrieb, operierte der Begriff Animismus selbst als Dämon, der wie ein Maxwell'scher Dämon Vernunft vom Aberglauben trennte und Kulturen entwicklungsgeschichtlich in eine magische und eine wissenschaftliche Kammer unterteilte. Dass die Reinigungsarbeiten zwischen Kultur und Natur, Subjekt und Objekt, Körper und Geist, "uns und den anderen" etc. nur um den Preis der Verdrängung ablaufen konnten und daraus eine Genealogie von Hybriden entspringt, zeigt u.a. Bruno Latour auf.[2]

Die animistische Beziehung zwischen Menschen und Nichtmenschen erfährt in der neueren Ethnologie eine Revision. Philippe Descola sieht im anthropologischen Animismuskonzept eine Spaltung in „Physikalität“ und „Interiorität“ und schlägt dagegen eine Sichtweise "jenseits von Natur und Kultur" vor.[3] Am Beispiel der Achuar im amazonischen Regenwald erzählt er von einer Gesellschaft, welche die uns selbstverständliche Trennung von Natur und Kultur nicht kennt. Tiere und Pflanzen haben menschliche Eigenschaften und umgekehrt, worauf verwandtschaftliche Netzwerke aufbauen. Damit kommt ein Perspektivenwechsel ins Spiel: Der Jäger sieht seine Beute in tierischer Gestalt, die sich selbst in menschlicher wahrnimmt und Menschen als Tiere betrachtet.

Der ebenfalls über indigene Völker der Amazonasregion forschende Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro sieht in diesem inversen Zugang eine fundamental anderes Wirklichkeitkonzept. Während die westliche Zivilisation und Wissenschaft davon ausgeht, dass es viele Kulturen, aber nur eine Natur gibt, leben wir für die Arawaté alle in der selben Kultur und in einer Vielheit von Natur. Dass wir selbst sprachlich keinen Plural für Natur vorgesehen haben, verdeutlicht diese grundlegende Umkehrung.[4]

Cyberanimismus: Das Internet der Dinge

Der "Geist, der in allen Dingen wohnt", ist eine animistische Formel, die sich heute noch weniger als früher auf indigene Völker beschränken lässt. Ingenieure animieren naturgesetzlich Materie mittels Technologie und schaffen Maschinen von der Animatronic bis zum Industrieroboter. Das Internet schafft eine technoanimistische Sphäre, die nicht nur Menschen mit Menschen, sondern zunehmend auch Menschen mit Dingen und Dinge untereinander vernetzt. Der Geist, der in allen Dingen wohnt, heißt heute Computer und seine Dämonen sind Dienste und Bots aller Art. Die Objekte werden dadurch gesprächig, bekommen eine eigene IP-Adresse und Identität. Alle Artefakte und zukünftig auch die Natur, das Wetter, die Pflanzen im Garten, Organismen im Labor und in freier Wildbahn werden vernetzt, liefern Daten und werden zum Sprechen gebracht. Das Messen, Tracken und Sammeln von Informationen wird zur Leidenschaft einer vernetzten Welt, die über das Internet der Dinge eine Überlagerungen von objekt- und zeichenhafter Wirklichkeiten nicht nur in Form einer erweiterten (augmented reality), sondern auch in Form einer verborgenen (arcane reality) generiert. Die Unterscheidung zwischen kulturellen und natürlichen, subjektiven und objektiven, virtuellen und realen Daten entgrenzt sich. Wenn Daten zu unserer Natur geworden sind, die kulturell unterschiedlich aufbereitet und korreliert werden, stellt sich die Frage nach einer zukünftigen Analogie zu de Castros Perspektivenwechsel erst gar nicht: Wir nehmen bereits jetzt Maschinen animistisch als Menschen wahr und werden von Maschinen als Daten verarbeitet. Wir alle, ob Mensch oder Maschine, nehmen die Welt auf die gleiche Weise wahr, aber die Welt ist für jeden eine andere.

Insbesondere das Internet der Dinge[5] stellt eine Dämonisierung der Welt vom entferntesten Gegenstand bis zum innersten Organ unseres Körpers in Aussicht. Ob medizinisch, logistisch, militärisch, ökonomisch, politisch, epistemisch oder spielerisch, es bleibt keine Lücke frei, in der sich nicht Dämonen der Kontrolle, Steuerung und Überwachung einnisten, um einen neuen technologischen Animismus zu gründen. Wenn das Internet der Dinge den Menschen bei seinen Tätigkeiten unmerklich unterstützt und beobachtet, kontrolliert und navigiert, stellt sich ein Zustand der Besessenheit ein, der einst in der überkommenen Begrifflichkeit des Exorzismus mit circumsessio und possessio beschrieben worden wäre.

Das Internet Protocol Version 6 (IPv6) offeriert 340 Sextillionen IP-Adressen, wogegen die Anzahl der berechneten Sterne im sichtbaren Universum oder die geschätzten Sandkörner in der Sahara, die mit jeweils 70 Trilliarden zu Buche schlagen, kaum ins Gewicht fallen. Überschreitungen und Übersetzungen zwischen Software, Hardware und Wetware sind nahezu unbeschränkt möglich. Die Vermittlung zwischen Menschen und Nichtmenschen kommt in ein neues Stadium und verkehrt die Bemühungen von Tylor das Animistische und Technizistische säuberlich zu trennen in ihr Gegenteil. Anima fungiert innerhalb dieses Konzepts als Software, die Kombinationen und Rekombinationen in Form eines Datenmetabolismus in Gang setzt und animistische Verhältnisse durch technische Netzwerke installiert.

Einzelnachweise

  1. Edward B. Tylor veröffentlichte zwischen 1866 und 1870 einer Reihe von Artikeln über Animismus, 1871 erschien sein Hauptwerk Primitive Culture.
  2. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. Main 1998.
  3. Vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a. Main 2013.
  4. Eduardo Viveiros de Castro, "Perspektiventausch: Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien", in: Irene Albers, Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012, S. 73-93.
  5. Der Begriff geht auf Kevin Ashton zurück, der erstmals 1999 vom „Internet of Things“ sprach. Vgl. Kevin Ashton, That 'Internet of Things' Thing. In: RFID Journal, 22. Juli 2009.