Anima

Aus Daimon

Seelenkonzepte

Ramses I. zwischen einer falkenköpfigen Seele von Pe und einer schakalköpfigen Seele von Kursiver TextNechen, Grab Ramses I., Theben West

Das Konzept der Seele (lat. anima) nennt der Historiker Samuel G. Brandon die fundamentalste Idee in der Menschheitsgeschichte.[1] Verglichen mit der Vorstellung des Jenseits ist die Idee der Seele für Brandon im Gegensatz zu Tylors Konzept des Animismus relativ jung und findet sich bis heute nicht in allen Kulturen. Sie verleiht dem Jenseits seine religiöse und politische Wirkung als Heilsversprechung auf ein Leben nach dem Tod. In diesem Sinne agieren Seelenkonzepte als Kultur- und Kontrolltechnologien. Der Seelenbegriff und seine Transformationen reichen in der abendländischen Tradition von der dreigeteilten Seele im Timaios, dem Pneuma bei den Stoikern, der Vorstellung des Homo duplex ab dem Mittelalter über materialistische Konzepte der Aufklärung, spiritistischen Modellen von Elektrizität und Magnetismus im 19. Jh. bis zum modernen Ich.

Einige Naturvölker glauben, dass nur bestimmte Menschen eine Seele besitzen, etwa nur Frauen oder nur Männer. Die Seele hat je nach Kultur einen anderen Sitz: im Auge, Haar, menschlichen Schatten, Bauch, Blut, Samen, in der Leber, im Atem, im Herzen. Bei den Hindus wohnt die Seele im Herzen und besitzt im Tod die Größe eines Daumens. Bei einigen indianischen Stämmen gab es Menschen mit mehreren Seelen. Die brasilianischen Tupinamba glaubten wie die Kariben und der Kubeo-Stamm aus dem Amazonasgebiet an eine Art Konsubstantiation, wozu auch das rituelle Verspeisen von Menschenfleisch gehörte, das als unerlässlich empfunden wurde, um das Überleben des Stammes und das Wohlwollen der Ahnengeister zu garantieren.

Bei den Ägyptern gab es neben dem Körper noch zwei weitere Wesenheiten, ka und ba. Erstere wurde als eine Art Doppel der lebenden Person betrachtet und diente als innewohnender Schutzgeist. Das ba wird in der modernen Ägyptologie für gewöhnlich als die "Seele" bezeichnet und findet sich in alten Darstellungen als Vogel mit Menschenkopf. Der Mensch war bei den Ägyptern ein geistig-körperlicher Organismus, die Seele war Teil des Körpers und umgekehrt, weshalb Einbalsamierungen große Bedeutung beigemessen wurde. Im Gegensatz dazu glaubten die Mesopotamier an eine eigenständige geistige Wesenheit, genannt napistu, was ursprünglich "Hals" bedeutete und sich dann zur Bezeichnung für "Atem", "Leben" und "Seele" erweiterte. Napistu war weniger das essenzielle Ich als ein beseelendes Lebensprinzip. Mit dem Tod ging eine Verwandlung einher – der Mensch wurde zum etimmu. Durch Opfergaben musste er genährt werden, denn er besaß die Macht, die Lebenden zu quälen. In der Dämonologie Mesopotamiens waren besonders jene Personen gefürchtet, die in der Ferne verstorben waren und kein angemessenes Begräbnis erhalten hatten.

Die Seele als Dämon

Cicero bezeichnete Seelen und Dämonen gleichermaßen als animi oder mentes.[2] Die Anima (griech. Psyche) bildete den unbewussten Teil des Menschen, zu dem auch der Genius gezählt wurde. Die Gleichsetzung von Dämon und Seele war in der Antike weit verbreitet und findet sich u.a. bei Hesiod, Thales, Heraklit, Pythagoras, Empedokles oder Apuleius. Die Seelen der Menschen des goldenen Zeitalters nennt Hesiod in Werke und Tage δαίμονες, daimones. Pythagoras hielt die Seele für einen gefallenen Gott, der im Körper eingekerkert war "wie in einem Grab, verdammt zum ewigen Kreislauf der Wiedergeburt". Wie die Orphiker glaubte er, dass die Seele nur durch eine rituelle Läuterung befreit werden könne. Im Platonismus bilden Seelen- und Dämonenlehre eine enge Einheit. Demnach verleiht der Dämon der Seele die "eigentliche" und "wahrhafte" Gestalt. Platon bestimmte die Seele als gefallene Gottheit, glaubte aber diese durch Vernunft befreien zu können, um sie wieder in den göttlichen Status zurückversetzen zu können. Darüber hinaus dachte er ein Jenseits unwandelbarer Formen, die umfassender, beständiger und wirklicher sind als alles auf Erden. Die idealen Formen finden ihre Entsprechung in menschlichen Ideen wie der Liebe, Gerechtigkeit, Schönheit, das Gute. Die Formen sind nach Platon nicht draußen in der Welt oder bei den Göttern zu finden, sondern immer nur im innersten Selbst zu entdecken, wo nach Sokrates der Daimon wohnt.

Seelenhandel

Im Katholizismus wurde die Seele zum handelbaren Gut. Wurde sie nicht durch Ablass freigekauft, drohte sie von Dämonen gequält zu werden. 1476 beschloss Papst Pius IV. auch Seelen im Fegefeuer Ablässe zu gewähren. Der Dominikanermönch Johann Tetzel zog von Dorf zu Dorf, um den Bauern für Passierscheine der Seele Geld abzupressen: "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt." Der Wildwuchs des Ablasshandels bereitete der Reformation den Boden. Als Martin Luthers Leichnam 1546 von Eisleben nach Wittenberg überstellt wurde, berichtete die katholische Propaganda von schreienden Raben, die ihn begleiteten. Wie Pater Thyräus von der Katholischen Partei im Jahre 1628 schreibt, verließ am Todestag Luthers eine Schar von Dämonen die Körper der Besessenen, um wenige Tage später wieder in die Leiber zu schlüpfen. Gefragt, wo sie gewesen waren, antworteten die Dämonen, dass sie vom Obersten gerufen wurden, sich beim Leichnam einzufinden.[3]

Im 16. Jahrhundert missionierten die Jesuiten die Völker Chinas. Seelen wurden zur Kolonialware, die es auf Eroberungszügen zu ernten galt. Ignatius von Loyola, der die "Mission zu den Ungläubigen" im Fernen Osten leitete, und der von ihm betraute Francisco de Xavier erwarben sich den Beinamen "conquistador das animas", Eroberer der Seelen.

Seelenmessung

Der Materialismus wurzelt im Diskurs der Physiologen des 16. Jhs. Der in Padua lehrende Pietro Pompanazi (1462-1524) beschrieb in De immortalitate animae (1516) den Körper als eine Art Maschine, die den Impulsen der Seele folgt. Der spanische Arzt Gomez Pereira bezeichnete 1554 Tiere als seelenlose Automaten. Im 17. Jh. verlagerte sich der Sitz der Seele von den Körpersäften über die Eingeweide endgültig ins Gehirn als Ort des essenziellen Ich. Thomas Hobbes’ Einwand, dass es gar keine Anima oder Seele gebe, war für diese Entwicklung ebenso entscheidend wie Descartes’ Umgestaltung der Seele von einem religiösen zu einem philosophischen Begriff. Fand sich bei Descartes (1596-1650) die gottursprüngliche Seele in der res cogitans, wird der Materialismus in seiner Nachfolge immer tiefer in den Seelenraum vorgetrieben. Die Seelenwelt weicht der Welt des Experiments, womit ein paradigmatischer Wandel von der Transzendenz in die Immanenz vollzogen wird. Bereits Jean de la Bruyère (1645-1696) erweiterte die Mechanik auf menschliche Eigenschaften: "Der Einfältige ist ein Automat, ein Uhrwerk, ein Getriebe; das Gewicht stößt ihn an, setzt ihn in drehende Bewegung, immerfort, im selben Sinn, mit derselben Regelmäßigkeit (...) er gleicht bestenfalls dem Ochsen oder der Amsel (...) was am wenigsten an ihm in Erscheinung tritt, ist seine Seele; sie wirkt nicht, sie betätigt sich nicht, sie ruht."[4] Der französische Philosoph Abbé Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) stellte die These auf, dass alle geistigen Funktionen auf angenehme oder schmerzhafte Empfindungen zurückzuführen seien, allerdings setzte er voraus, dass es die Seele war, die alle Empfindungen verursachte. Der Schweizer Naturforscher Charles Bonnet (1720–1793) glaubte, dass alle geistigen Aktivitäten in den Fasern des Gehirns abliefen, hielt für diese Funktionen aber ebenfalls eine Seele vonnöten. Mit Polemik und Ironie schrieb Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) in seinem Manifest des radikalen Materialismus L'homme machine (1748) gegen den Leib-Seele-Dualismus an. Seele und Geist werden gegenüber tradierten metaphysischen und spirituellen Konzepten als Erscheinungsformen des Gehirnorgans aufgefasst, dessen Mechanismus die Einbildungskraft der Seelenmaschine hervorbringt. "Da nun aber einmal alle Funktionen der Seele dermaßen von der entsprechenden Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nichts anderes sind als diese Organe selbst, haben wir es ganz klar mit einer Maschine zu tun. (...) Das Denken entwickelt sich doch ganz offensichtlich mit den Organen. Warum sollte die Materie, aus der sie bestehen, nicht auch Schuldgefühle hervorbringen können, seit sie irgendwann einmal im Laufe der Zeiten die Fähigkeit des Empfindens erworben hatte? ‘Seele‘ ist also nur ein leeres Wort, von dem man keinerlei inhaltliche Vorstellung hat."[5] Die Verwandlung der beseelten in eine materielle Welt spiegelt die Strömungen von Aufklärung, Rationalismus und Säkularisation als Verkehrung der metaphysischen Transzendenz in eine materielle Immanenz. Darauf bauen die Bemühungen, künstliche Maschinenintelligenz zu entwerfen, um mentale Operationen in Apparaten und Programmen zu simulieren.

In der Romantik mischten sich tradierte Seelen-, Geistes- und Genievorstellungen mit technischen Automaten und bereiteten den Paradigmenwandel des Modernismus. Die unheimliche Leidenschaft der Romantik, künstliche Objekte wie Puppen, Skulpturen und Bilder zu beseelen, führte mythische Seelenkonzepte in die literarische Fantasien des 19. Jhs. über, in denen - etwa bei E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Eichendorffs Marmorbild oder Oscar Wilds Dorian Gray - Einschreibungen des Geistes bzw. des künstlerischen Genies in tote Materie erfolgten und diese in Manier Pygmalions magisch belebten.

Von der möglichen Koexistenz zweier Persönlichkeiten, wie sie Robert Louis Stevenson in Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) literarisch ausführt, waren die Menschen im 19. Jh. fasziniert. Max Dessoir entwickelte die Theorie vom Dipsychismus. In seinem Buch Das Doppel-Ich (1890) teilte er die menschliche Seele in zwei Ich-Formen auf, die er das "Oberbewußtsein" und das "Unterbewußtsein" nannte. Damit beginnt sich die Einheit der Seele aufzulösen und Freuds Zeitalter der Psychoanalyse. Es entsteht die moderne Idee vom Ich, die sich bis heute in Psychologie, Neurowissenschaften und Philosophie zu einem verteilten Netzwerk diversifiziert und in der KI-Forschung auf ihre Einschreibung in die Maschine harrt. Den gesamten Bereich seelischer Strukturbildung zu berücksichtigen, bemühen sich Theorien, die der Intersubjektivität Priorität einräumen und Biologie und Kultur als interdependente Aktanten verstehen.

Einzelnachweise

  1. Vgl.S.G.F. Brandon, The Weighing of the Soul, Chicago 1961.
  2. Vgl. Cicero, Div. 2, 58, 119.
  3. Vgl. De variis apparitionibus Die Christi angelorum pariter bonorum atque malorum, Köln 1968, S. 14.
  4. Zit. n. Volker Grassmuck, Vom Animismus zu Animation, Hamburg 1988, S. 77.
  5. Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch als Maschine, Nürnberg 1988, S. 67 f.

Literatur

Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a. Main 2003.

Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart 2006.

Weblinks

Thomas Feuerstein, L'artMettrie