Golem

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Kabbalismus

Paul Wegener als Golem. Paul Wegener, Carl Boese, Der Golem, wie er in die Welt kam, Deutschland 1920.

Im Hebräischen bezeichnet Golem die ungeformte, geistlose Materie, die durch Atem und Leben erweckt wird. Im Talmud (Traktat Sanhedrin 38b) schafft Gott aus Erde Adam (hebr. ădāmāh, „Ackerboden“), indem er der Materie eine Seele einhaucht. Darauf baut in der Kabbala seit dem 12. Jh. die Vorstellung auf, mittels bestimmter Schöpferworte wie "Shemhamphorasch" aus Lehm einen Diener erschaffen zu können. Derartige androide Wesen sollen die Rabbiner Eleasar ben Juda ben Kalonymos von Worms, Eliyahu Ba'al Shem von Chełm und Rabbi Löw von Prag geschaffen haben. Das kabbalistische Prinzip beruht dabei auf der magischen Inskription von Sprache in Materie: "Der Prophet Jeremia beschäftigte sich allein mit dem Buch Jezira. Da erging eine himmlische Stimme und sprach: Erwirb dir einen Genossen. Er ging zu seinem Sohn Sira, und sie studierten das Buch drei Jahre lang. Danach gingen sie daran, die Alphabete nach den kabbalistischen Prinzipien der Kombination, Zusammenfassung und Wortbildung zu kombinieren, und es wurde ihnen ein Mensch geschaffen, auf dessen Stirne stand: JHWH Elohim Emeth. Es war aber ein Messer in der Hand jenes neuerschaffenen Menschen, mit er das aleph von emeth auslöschte; da blieb: meth. Da zerriß Jeremia seine Kleider (wegen der hindurch implizierten Blasphemie der Inschrift: Gott der Herr ist tot! Anm. G. Scholem) und sagte: Warum löscht du das aleph von emeth aus? Er antwortete: Ich will dir ein Gleichnis erzählen. Ein Architekt baute viele Häuser, Städte und Plätze, aber niemand konnte ihm seine Kunst abmerken und es mit seinem Wissen und seiner Handfertigkeit aufnehmen, bis ihn zwei Leute überredeten. Da lehrte er sie das Geheimnis seiner Kunst, und sie wußten nun alles auf die richtige Weise. Als sie sein Geheimnis und seine Fähigkeiten erlernt hatten, begannen sie ihn mit Worten zu ärgern, bis sie sich von ihm trennten und Architekten wie er wurden, nur daß sie alles, wofür er einen Taler nahm, für sechs Groschen machten. Als die Leute das merkten, hörten sie auf, den Künstler zu ehren, und kamen zu ihnen und ehrten sie und gaben ihnen Aufträge, wenn sie einen Bau brauchten. So hat euch Gott in seinem Bilde und seiner Gestalt und Form geschaffen. Nun aber, wo ihr, wie Er, einen Menschen erschaffen habt, wird man sagen: Es ist kein Gott in dieser Welt außer diesen beiden! Da sagte Jeremia: Welchen Ausweg gibt es also? Er sagte: Schreibt die Alphabete von hinten nach vorn in jene Erde, die ihr mit gesammelter Konzentration hingestreut habt. Nur meditiert nicht über sie in Richtung des Aufbaus, sondern vielmehr umgekehrt. So taten sie, und jener Mensch wurde vor ihren Augen zu Staub und Asche. Da sagte Jeremia: Wahrlich, man sollte diese Dinge nur studieren, um die Kraft und Allmacht des Schöpfers dieser Welt zu erkennen, aber nicht, um sie wirklich zu vollziehen."[1]

Die Golem-Legende wird bis heute in Literatur, Film und Popkultur zitiert und fungiert kulturell als vielleicht einflussreichster logomorpher Schöpfungsmythos. Die Belebung von toter Materie durch Sprache findet sich u.a. in Goethes Ballade "Der Zauberlehrling" (1797), wo ein Besen durch einen Zauberspruch in ein menschenähnliches Wesen verwandelt wird.

Technoanimismus

ASIMO vor der Büste von Karel Čapek, Nationalmuseum in Prag, 2003.

Sprache und Zeichen verweisen im Kabbalismus nicht auf die Welt, sie werden mit ihr wesensident gedacht und entfalten dadurch ihre Zauberkraft. Der richtige Code in Form von Worten und Buchstabenkombinationen kann sowohl Dinge erschaffen, diese in ihrer Funktion und in ihrem Zustand verändern als auch zerstören und zum Verschwinden bringen. Illokutive und perlokutive Sprechakte im Sinne von John Austin beschränken sich dabei nicht auf die Kommunikation zwischen Menschen, sie adressieren unmittelbar Materie und führen den sprachlichen Imperativ in eine molekulare Transmutation über.[2] Die Zeichen bringen den Gegenstand hervor und organisieren wie beim Golem Materie zu Leben. Was literarisch als Statuenbelebung von Pygmalion über E.T.A. Hoffmanns Sandmann bis zu gegenwärtigen Roboterphantasien in Literatur und Film fiktional erzählt wird, vollzieht sich technikgeschichtlich in der Entwicklung mechanischer, elektronischer und biologischer Maschinen. Die Inskription eines Bauplans in Materie ist das Wesensprinzip des Ingenieurs, der seine Gedanken Werkstoffen einschreibt, um eine Maschine hervorzubringen, die dem Menschen dient. Der Ingenieur operiert in diesem Kontext als Neokabbalist, indem er Hardware durch Software informiert und naturgesetzlich animiert. Für Karel Čapek, der in seinem Theaterstück R.U.R. Rossum's Universal Robots (1921) den Begriff Roboter prägte, war der Golem eine historische Referenz, um auf die Inkarnation mythischer Symbole in materielle Technologie zu verweisen: "R.U.R. is in fact a transformation of the Golem legend into a modern form. (…) 'To hell, it is in fact Golem,' I said to myself. 'Robots are Golem made with factory mass production.'"[3]

Claytronics

Programmierbare Flüssigmetalle statt Lehm: Der nanomorphe Roboter T-1000 aus dem Film Terminator 2.

In einer Hybridisierung von Nanotechnologie und Robotik zielen Claytronics-Technologien auf die Programmierung von Materie. Steuer- und formbare Mikromodule sollen sich wie zweidimensionale Pixel eines Bildes zu dreidimensionalen Raumkörpern organisieren lassen.[4] Vergleichbar der Auflösung eines Bildes resultiert aus Größe und Anzahl der sogenannten Catome das Volumen und die Detailgenauigkeit des programmierten Körpers. Claytronics (clay, engl. Lehm) übersetzt den kabbalistischen Mythos des Golem in Technologie und schafft eine enge Verschränkung zwischen Materie und sprachlichem Code.

Einzelnachweise

  1. Pseudoepigraphon, Languedoc, Anf. d. 13. Jhs., vermutlich v. Juda ben Bathyra. Zit. n. Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. Main 1981, S. 234f.
  2. Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972.
  3. Zit.n. Jana Horáková, Jozef Kelemen, "The Robot Story", in: Philip Hutbands, Owen Holland, Michael Wheeler, The Mechanical Mind in History, Cambridge 2008, S. 287. Vgl. weiters Josef Čapek, "Der künstliche Mensch - Homo artefactus", in: Ad libitum, Sammlung Zerstreuung Nr. 12, Berlin 1986, S. 98ff.
  4. Vgl. Carnegie Mellon, Claytronics