Engel

Aus Daimon

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Irini Athanassakis



Engel. Angelos. Malak(h). Fereshteh. Figuren des Dazwischen und des Möglichen.

Der Engel versucht durch seine unaufdringliche Hinführung die gewalttätige Verführung des Dämonen auszugleichen.

Paul Claudel


"Zwischen allen Geschichten bleibt ein Enigma, eines, das den Engel auch in unserem Jahrhundert zu einem Mythos werden läßt. Im Zwischenraum zwischen den Bildern und den Deutungen bleibt er als namenslose und begriffslose Kraft, ein ‚energon‘ ohne Anschauung. Dies wird der moderne Engel, Abstraktum, Kristallisation des Menschenmöglichen außerhalb des Diktats der Rationalität. Der Engel wird Kreator, in neuer Deutung der ‚vis imaginativa‘, Darsteller und Repräsentant ästhetischer und philosophischer Möglichkeit."[1]

Ginge es auch so: Vielleicht sind Engel heute nicht nur Figuren ästhetischer und philosophischer, sondern auch ganz praktischer biogenetischer und durchaus auch finanztechnischer Möglichkeit.

Das Leben, das Sein, war stets gezeichnet von der Ungewissheit. Kultur und kulturelle Praxen entwickelten verschiedene Methoden und Strategien, um dieses Ungewisse zu beschwören oder zu bändigen, die damit verbundenen Ängste im Zaum zu halten.

Engel gehören zu dem heterogenen Gewirr von Wesen und Konzepten, die dieses Ungewisse personifizieren, und gelten also trotz aller Aufklärung und Technik und Forschung noch immer als möglich. Vielleicht auch als wünschenswert.

Sie zählen zum Reich der Dämonen, angesichts ihrer Mischform vielleicht auch zu den Monstern, sie sind Repräsentanten von dem Menschen unzugänglichen Kräften, die diesen seit jeher beschäftigen, gelten als " Eudämonen“, die wohlgesinnten Kräfte.

Engel existieren jedenfalls trotz aller Aufklärung noch immer als Vorstellung und Verkörperung bzw. Konzeptualisierung des möglichen „Guten“, oder etwas differenzierter ausgedrückt des möglichen Irrationalen oder Gewünschten, und gehören damit, Descartes zufolge, in die Kategorie des Imaginären. Aber das Imaginäre wird erlebt, gelebt, trotz aller sinnlichen Erfahrungen und intellektuellen Erkenntnisse.

Und darin gelten Engel als Überwinder von Dichotomien, als Mittler zwischen Körper und Geist, Diesseits und Jenseits, als Zusammen- und Abstandhalter, als Zuständige für das Dazwischen, auch das Dazwischen unter den Geschlechtern. Vor allem prägt der Mittlergedanke, die Botenfunktion, das Verständnis der Engel von heute.

Der gefallene Engel ist Luzifer, weil er nicht mehr Mittler sein, sondern den Platz Gottes einnehmen wollte: Er polarisierte, verkörpert die Dämonie der Dichotomien.

Heute stellt sich die Frage, wie weit sich der Mittlergedanke und die Mittlerpraxis ausweiten lassen.

Während Giorgio Agamben in seinen Gedanken zu Engeln nach alttestamentarischer Manier und in Anlehnung an Dionysius Areopagita von Hierarchien und Ordnungen göttlicher Natur, von Verehrung und Assistenz zur Realisierung des göttlichen Willens berichtet, vermutet Michel Serres Engel vermittelnd zwischen den alten Naturreligionen und dem monotheistischen Engelkonzept überall: in den Elementen, in den technischen Apparaturen, in der zeitgenössischen Kommunikation und nicht zuletzt in uns selbst, als Überbringer und Verwirklicher von Botschaften, die jegliche Vorstellung eines modernen Selbst bzw. eines Ich relativieren. Und obwohl Engel vor allem in den monotheistischen Religionen zu finden sind – der Ferne Osten, der Buddhismus und das Tao kennen keine Engel, denn die Gottheiten und das Göttliche sind ohnehin überall –, stellen sie genau diesen einzigen Gott durch ihre oft zahlreiche Präsenz durchaus infrage. Außerdem bietet sich Engeln in der Esoterik ein regelrechtes Paradies …

Engel bzw. geflügelte Wesen fliegen durch die Zeit und die Kulturen. Ihre Vorstellung und Darstellung wandelt sich vom etwas unheimlichen Mischwesen, das zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre vermitteln soll, hin zur hübschen, pausbäckigen Amor -Replik, die noch immer und nicht nur zur Weihnachtszeit Liebliches versprechen soll. Zentral bleibt bei der Denkfigur des Dazwischen, des Vermittelnden das Fliegen bzw. das Geflügeltsein als Sinnbild des rasch und sicher Übermittelnkönnens, nur der Äther sei zu überwinden, es geht also vor allem um metaphysische, vielleicht tiefenpsychologische Qualitäten.

Das Fliegen als Traum der Menschheit mag dabei von Bedeutung sein, auch diverse „reale“ Flugträume und andere paranormale Erlebnisse oder Vorkommnisse. Geht man nun der Geschichte der geflügelten Wesen als kulturellen Chiffren nach, findet man häufig Vögel bzw. geflügelte Wesen als Motiv in vielen Mythen, symbolischen Ordnungen und magischen Kulten und gelangt unter anderem nach Indien, Mesopotamien und Babylon. Letzteres zierte seine Tempel mit durchaus furchteinflößenden Mischwesen aus Löwe, Stier, Adler und Mensch, um die Leben spendenden Kräfte zu ehren und sie zu bitten, gewogen zu sein. Zentrale Funktion der Gefiederten war der Zugang zur Schöpfung bzw. die Überbringung des Lebens (und der Seele).

Die Vorstellung vom Weltenei als vorzeitlichem und kulturübergreifendem Mythos der Weltenstehungslegenden und Grundlage für die Entstehung des Göttlichen an sich mag nach tiefenpsychologischen Erkenntnissen und vielleicht auch ganz konkreten biologischen Tatsachen diesen Vorstellungen zugrunde liegen. Überreste davon sind wohl die zahlreichen Störche (entlehnt aus der germanischen Mythologie), die Kinderzimmer, Geburtskliniken und sogar Reproduktionspraxen schmücken.

Zu einem der großen und durchaus angstbesetzten Projekte der Menschheit gehört nicht nur das Verständnis, sondern auch die Zähmung dieses Ungewissen, das die Schöpfung und das Leben birgt und hervorbringt. Es geht um nichts Geringeres, als die Welt nicht nur zu verstehen, sondern zunehmend mitzugestalten, und zwar nicht in dekorativer, sondern in ganz und gar grundsätzlicher Manier.

Die Rolle der Engel lässt sich in diesem Kontext und im Hinblick auf deren Herkunft heute gänzlich neu denken. Dazu lohnt es, ein wenig auszuholen.


Etymologie und Verständnis einer Denkfigur

Das Wort „Engel“ leitet sich vom griechischen „angelos“ ab, mit der Bedeutung „Botschafter“. Ähnliche Bedeutungen rund um die Botenfunktion gelten auch für das hebräische „malakh“, das arabische „malak“ und das persische „fereshteh“. Die griechischen „angeloi“ leiten sich etymologisch von den persischen Bediensteten des Relaispostsystems ab, des „angareion“, das nach Horst Wenzel der heutigen Post, zeitgenössischer vielleicht dem Internet bzw. der gesamten Palette von Übertragungsmedien entspricht.[2] Das Wort „Engel“ wurde durch das Christentum in die neuen Sprachen eingeführt.[3]

Die Engel bzw. ihre geflügelten Vorfahren aus dem Tierreich scheinen sich vor allem durch die Funktion des Übermittlers zu definieren, und zwar des Übermittlers zwischen der göttlichen und der menschlichen Ebene.

Aber darauf beschränkt sich die Rolle bzw. die Funktion der Engel keineswegs, denn es gibt nicht „den“ Engel, sondern eine Vielzahl von Engelfiguren, darunter „Schutzengel, Kriegsengel, Todesengel, Engelchöre, Liebesengel, Engel als Boten, pausbäckige Knaben oder […] himmlische Würdenträger“[4]. All diesem liegen jedoch die Übermittlung und die Verwirklichung des göttlichen Willens und ein wenig profaner des Lebens zugrunde. Aufgrund ihrer Herkunft, Vielfalt und Bedeutung beschäftigen die Engel eine ganze Reihe von Wissenschaften und Disziplinen, nicht nur die naheliegenden Religionswissenschaften und die Kunstgeschichte, sondern auch Archäologie, Ethnologie, Kulturgeschichte, Philosophie, Belletristik, Esoterik, Psychologie bzw. Psychoanalyse und immer wieder die zeitgenössische Kunst.

Bemerkenswert ist jedoch nicht nur ihre konzeptuelle Präsenz, sondern auch in Zeiten des Zweifels an Metaphysik und Kirchen ihre bildliche und figürliche Präsenz wohl im Großteil aller Haushalte der westlichen und durchaus auch „weltlichen“ Welt.


Mythologische Historie: Geflügelte Überbringer des Lebens und der Unsterblichkeit. Vom Weltenei zu den „Geflügelten“ von Indien über Babylon nach Ägypten und weiter

Engel entwickelten sich, wahrscheinlich ausgehend vom Weltenei, aus den alten Tiergöttern Indiens, Babylons und Ägyptens und übernahmen deren Funktion der Vermittlung sakraler Mächte, sowohl als Diener als auch als deren reine Repräsentanten.[5]

Indien kennt mehrere Vogelarten als Gottesmittler bzw. Göttervögel.[6] Ein Adler reicht Indra[7] (mit der Grundbedeutung „stark“, „mächtig“), dem „König der Götter“ bzw. Gott des Himmels, genauer des Regens und der Fruchtbarkeit, laut der frühindischen Rigveda bzw. den Veden (aus der Bronzezeit zwischen 1750 und 1200 v. Chr.) den Lebens- und Opfertrank Soma, übernommen aus der iranischen Tradition (und zwar der Arier aus dem Industal um 1500 bis 1000 v. Chr.), der durch seine vielleicht rauschhafte, stärkende und bewusstseinserweiternde Wirkung Zugang zur Sphäre der Gottheiten und damit zur Unsterblichkeit vermitteln soll.

Vishnu (der „Durchdringer“ bzw. „Alldurchdringer“) wiederum, der laut den Veden für die fundamentale Erhaltung des Kosmos im Sinne einer gerechten und kosmologischen Ordnung und für die Bekämpfung der Dämonen zuständig ist und sich dazu zu den sogenannten „Avataras“ (Avatar) inkarniert, reitet auf dem goldenen Sonnenvogel Garuda (garut, „Flügel“), halb Mensch, halb Adler. Dieser hatte nach den Schilderungen des Mahabharata, um seine auf ihre Nebenbuhlerin die Erdgöttin Kadru eifersüchtige und bestrafte Mutter, die Himmelsgöttin Vinata, zu befreien, den Göttern das Unsterblichkeitselixir Amrita (Sanskrit, n., अमृत, amṛta, Unsterblichkeit), das Äquivalent zum Soma aus dem Rigveda, entwendet. Amrita ist nämlich das von Göttern (Devas) und Dämonen (Asuras, die vom Licht bzw. Sonnengott Abgewandten) umkämpfte Gut, Erstere hatten laut den indischen Epen im Streit darum gesiegt.

Brahma, einer der Hauptgötter des Hinduismus und Gott der Schöpfung bzw. Schöpferkraft der Natur (siehe: Bhagawad-Gitä), reitet auf dem Hamsa, je nach Quelle Gans oder Schwan, selbst eingeweiht in das heilige Wissen des Lebens und Vermittler der Möglichkeit, dem Samsara zu entkommen.

Die babylonische Repräsentantin und Erbin dieser Denkfigur ist wohl Ischtar, Inbegriff der Weiblichkeit und des Geschlechtslebens, Himmelsgöttin bzw. Göttin der Liebe, des Krieges und der Fruchtbarkeit. Sie konnte bisexuell wirken bzw. beide Geschlechter annehmen, gilt als zentral für die Fruchtbarkeit auf Erden, und wurde als verdoppelte Taube dargestellt.[8] Ihre Nachfolgerinnen und Äquivalente sind die ägyptische Isis (auch dargestellt mit Flügeln, die Lebensluft zuweht und Schutz spendet), der auch Sexualmagie zugesprochen wurde, die semitische Astarte sowie die griechische Aphrodite. Die Taube begleitet die Göttinnen durch die Zeit und die verschiedenen Kulte und repräsentiert auch im Christentum zunächst, angelehnt an die Antike, die Überbringung des Lebens bei Verkündigungs- und Empfängnisszenen Marias und schließlich den Heiligen Geist.[9] Erst ab dem 6. Jahrhundert erscheint die Taube als alles belebende und befruchtende Pfingsttaube neben den oder statt der Feuerzungen.

Neben der Taube mit ihrer unglaublichen Karriere durch die Kulturen galt in der altägyptischen Hochkultur außerdem die Gans als demiurgisches Elementarwesen und Verkörperung des urzeitlichen Schöpfergotts Amun[10] (als der „Verborgene“, „Herr der Strahlen, der das Licht schaffe“ bzw. Gott „der in allen Dingen bleibt“). Horus, der Himmelsgott, erschien als Falke, wobei Sonne und Mond als seine beiden Augen galten und auch die Sonne als Falke angesehen wurde. Der Falke diente dem Sonnengott Re als heiliges Tier (Darstellung als menschlicher Körper mit Falkenkopf), der Ibis hingegen erschien als Kopf des Gottes Thot – Gott des Mondes und aufgrund dessen auch Herr der Zeit und sogar der Schrift als „Rechner der Jahre“[11].

Die Phönizier wiederum sahen den Adler als Attribut des Himmels bzw. des Wetter- und Fruchtbarkeitsgottes Baal, die biblischen Propheten kritisierten Baal jedoch und das spätere Christentum sah in ihm einen Dämon.

Ebenso lässt sich in der griechischen und der römischen Mythologie eine Reihe von geflügelten Tiergestalten ausmachen, einige Gottheiten tragen auch selbst Flügel: und zwar Hermes (Merkur), Nike (Victoria) und Eros (Amor). Hier sei vielleicht zu bemerken, dass Hermes nicht nur als Götterbote, als Mittler zwischen der göttlichen und menschlichen Sphäre, betrachtet wird, sondern dass sein Stab mit den zwei sich darum windenden Schlangen nach dem Hermes Trismegistos[12] auf den ägyptischen Gott Toth verweist, der wie erwähnt für den ewigen Wandel und die Zeit zuständig ist. Die Übertragung auf die Sphäre der Ökonomie bzw. des Handels ist ein neuer Aspekt dieser Figur. Bote bzw. Wandler, Sieg und Liebe können durchaus als zentrale Figuren der Schöpfung bzw. der Fruchtbarkeit betrachtet werden.

Außerdem war in der griechischen und der römischen Antike, angelehnt an den ägyptischen und den etruskischen Kult, der Vogelflug eine der zentralen Chiffren des Orakels[13] (neben der Schau der Eingeweide und der Himmelserscheinungen, Blitz und Donner), er könnte gemeinsam mit der Beobachtung der Himmelskörper bzw. der Astrologie mit der Rolle der zeitgenössischen statistischen Datenverläufe verglichen werden.

Zu den Vogelarten, die den antiken Gottheiten beigestellt wurden, gehörten der Adler als Attribut des Göttervaters Zeus (römisch Jupiter), die Eule als Begleiterin der Athene, Verkörperung der Weisheit und Stadtgöttin Athens, der Picus, ein Specht, wurde dem Kriegsgott Mars zugeschrieben. Die Etrusker sahen die Gans als Begleiterin der Geburtsgöttin Thalna.

Bei den Germanen wiederum brachte der Storch die Kinder.[14] Zwei Raben saßen auf den Schultern des phallischen und kriegerischen Hauptgottes Odin und erzählten ihm, was in der Welt geschah, die Ehe-, Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Freya trug das Kleid des Falken.[15]

Oft kleideten sich auch Schamanen nordamerikanischer und eurasiatischer Jägerstämme in Vogelkostüme, wodurch ihre „Seelenreisen“ ermöglicht wurden.[16] Und in der Märchen und Sagenwelt Grimms pflücken drei Raben (als Vertreter der Experten der temporalen Vertikalität) den goldenen Apfel vom (plazentalen) Lebensbaum.

Zum Exodus nahmen die Israeliten nicht nur den einen Gott mit, sondern auch die Engel als dessen Verehrer und Bewunderer wie auch Boten bzw. Assistenten. Nicht nur das Christentum, auch der Islam nahm die Engel freudig auf und war froh um Verkörperungen bzw. Konzeptualisierungen des Boten- bzw. Überbringergedankens. Allein der Name der „Evangelien“ lässt verstehen, wie zentral der Verkündigungsgedanke und die Botschaft vom einen richtigen Gott und seiner Herrlichkeit waren und sind. Sogar die strengen Protestanten hatten als „Evangelen“ nicht nur nichts gegen Engel, siesahen sich gar in gewisser Weise als deren „wahre“ Nachkommenschaft.

Insgesamt könnte man das Geflügeltsein und vogelähnliche Erscheinungen durch die Zeiten und Kulturen als geschlechterübergreifende Repräsentanten, vielleicht Metaphern für die Möglichkeit des Verbindens betrachten: Sie „konnten die Räume zwischen dem Oben und Unten, den Sternen und den Toten, mühelos durchqueren; in ihrer Bewegung verkörperten sie die vertikale Richtung der Fragen nach Herkunft und Zukunft, nach Geburt und Tod.“[17] Sie sollen den Zugang zum Göttlichen und zum Geheimnis des (vielleicht ewigen) Lebens ermöglichen und sind somit eine zentrale Chiffre vieler Mythen und Sagen.

Das Aufkommen des Logos, der Aufklärung und der Moderne, von Philosophie, Wissenschaft und Psychologie hat keineswegs dazu geführt, dass das Engel- und Flügelthema bzw. das Vermittlungs- und Schöpfungs- bzw. Fruchtbarkeitsthema ad acta gelegt wurde, sondern es hat neue Sprachen und Denkformen dazu entwickelt. Im Folgenden seien einige von ihnen vorgestellt.


Antike Quellen, Angelologie und Theologien, Aufklärung und Philosophie, Psychoanalyse und (Bio-)Physik (Platon, Augustinus, Thomas, Descartes, Agamben, Serres, Freud, Jung, Lacan u. a.)

Ontologische Legitimität und Notwendigkeit vermittelnder Wesen finden sich bereits im Symposion Platons: Er spricht von einem wichtigen Dazwischen zwischen Sterblichen und dem Unsterblichen, und zwar, nach den Worten Diotimas zu Sokrates, einem „Dämon“. Dieser besitze die Fähigkeit, „zu übersetzen und zu überbringen – den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt: von den einen Gebete und Opfer, von den anderen Anordnungen und Vergeltungen der Opfer“ [18]. Die Rede ist eigentlich von der Liebe, konkret von Eros und davon, ob er denn ein „richtiger“ Gott sei, weil er ja etwas begehrt … Um seine Flügel geht es dabei freilich nicht. Die griechische Philosophie ersetzt als Modernisiererin den Begriff „angelia“ (Botschaft) durch „logos“, „idea“, „nous“, die Dichtung durch die Philosophie, just weil nach Platon die Dichter die Botschafter der Götter sind.[19] Sybille Krämer beginnt ihre Kleine Metaphysik der Medialität mit einem Prolog über das „postalische“ und das „erotische“ Prinzip von Kommunikation, unterscheidet zwischen Übertragung und/oder Verständigung, zwischen Kommunikation und Wahrnehmung und sieht im dialogischen bzw. erotischen Prinzip der Übertragung als Kommunikation, die ein Zusammenfallen und eine Vereinheitlichung vormals divergierender Zustände von Individuen ermöglichen, entschuldigt aber diese „latent erotische Dimension“ als in einem „elementar und reflexiv anspruchsvollen Sinne“ verwendet und verweist auf die heutigen Medien mit ihrem Schwerpunkt auf Nichtdialogizität …[20]

Im Bereich des Religiösen der den Philosophen der Antike folgte, sehen die Gnostiker, die rabbinischen Kommentare und die Christologie der ersten Jahrhunderte sehen im Engel den Boten und Übersetzer („angelus interpres“) Jahwes (als Metatron, Anaphiel, Michael), setzen ihn manchmal mit Jesus Christus gleich (Christos Angelos). Augustinus hebt die Funktion der Engel hervor, den Abstand zwischen Himmel und Erde zu überwinden. „Angelus enim officii nomen est, non natura“ (Augustinus). Ist Christus als eine Verkörperung der Zusammenkunft des göttlichen Samens mit einer (Jung-)Frau zu betrachten, kommt man wieder zum Eros und zum Fruchtbarkeitsthema zurück, die die Künstler der Renaissance nur allzu treffend in den zahlreichen Verkündigungsszenen mit und ohne Gabriel oder Taube dargestellt haben.

Die Angelologie als strenge Soziologie des Himmels mit ihrer Differenzierung, ihrer Hierarchie und ihrem Gehorsam kann systematische als Weiterführung der Lehren der Kirchenväter und der scholastischen Theologie der vorsokratischen milesischen Naturphilosophie (Thales, Anaximandros und Anaximenes) und deren Vorstellung, dass alles voller Götter sei (genauer spricht Thales von Dämonen und „Feuchtem“), betrachtet werden, heute spricht man eher von Hylopsychismus (Stoffbeseelung). Sie vereint trotz des dogmatischen christlichen Anspruchs Elemente aus Mythologie, Mystik, Kabbala, Judentum und Esoterik. Sie findet sich auch in zeitgenössischen Texten, etwa sehr ordnungsliebend bei Giorgio Agamben, etwas „wilder“ bei Michel Serres.

Zentral ist dabei die Vorstellung der Arbeitsteilung unter den Engelscharen, ein durchaus modernes Konzept. Die Angelologie legt konkrete Abschnitte des zu beschreitenden Wegs fest und empfiehlt vermittelnde Wesen, die die Schwelle jeder Stufe bewachen und weiterführen können. Die Jakobsleiter verbildlicht diese Vorstellung, sie kann möglicherweise auf den mesopotamischen „ziqqurrat“ zurückgeführt werden, wahrscheinlich die erste dreidimensionale Darstellung einer außerirdischen Welt. Noch immer gilt die Hierarchie der neuen Stufen von (Pseudo-)Dionysius Areopagita: Ganz „oben“ finden sich Seraphim, Cherubim und Throne, ihnen folgen mittlere „Chöre“ der Fürstentümer, Herrschaften und Mächte und schließlich die Heerscharen in der Nähe der Menschen, nämlich Kräfte, Erzengel und Engel. Sie bilden Ferne und Nähe ab, sind die Methode der Theognosie.

Engel sind also nicht nur mit der Kontrolle eines einzelnen Menschen, der Kontrolle von Völkern, Gemeinschaften oder ganzen Zeitalter betraut, sondern agieren auch Geister des Ortes, der Zeit, der Elemente (der Luft, des Regens, des Feuers und des Wassers), der Himmelskörper, meteorologischer Phänomene (des Regens, des Windes, der Wolken etc.), Engel des Meeres, des Lebens, des Todes, der Gnade, der Vergebung, der Strafe, des Friedens etc. Eine andere Form der Ordnung sehen Clemens von Alexandrien oder die Origines (Patristik): Sie unterscheiden linke (für die für alle Zeit verlorenen Sünder) und rechte (für die Seelen der Reuigen) Engel als Verwalter der Seelen (nach jüdischer und griechischer Tradition). Die oben genannten Hierarchien dienten als Modelle nicht nur für kirchliche, sondern auch für kaiserliche Hierarchien und weisen aufgrund der Arbeits- und Kompetenzteilung durchaus parlamentarische Züge auf, jedenfalls handelt es sich dabei um eine Art Kategorisierung, Funktionalisierung und Politisierung des Ungewissen.

Nun kennt das Christentum, angelehnt an die Dämonenlehre, Engel und gefallene Engel in Gestalt von Satan bzw. Luzifer. Dessen Frevel ist es wie erwähnt, den Platz Gottes selbst einnehmen zu wollen. Die Dämonie liegt in den Dichotomien: die luziferische Abweichung liegt im polarisierenden Instinkt, in der Abschaffung des „Dritten“. Und in bloßen Dichotomien, in einer binären Welt, gibt es in der Tat keine Engel. Sie wären das verbindende und modulierende Mittelglied. Andrei Gabriel Pleşu formuliert dies als polyvalente Logik der Ereignisse: „Wir nähern uns immer dann dem Territorium der Engel, wenn wir von Modulationen des Seienden sprechen: vom Möglichen, vom Virtuellen, von ‚intensiven‘ Existenzen, von ‚Überexistenzen‘, indirekten, impliziten Existenzen, Traumexistenzen.“[21]

Als luziferisch bzw. dämonisch gelten demnach Descartes und die moderne Welt: Denn Engel gehören nach Descartes in die Kategorie des Imaginären, es gebe aber nur „wirklich“ oder „nicht wirklich“. Das Dazwischen, Eros und Liebe und vielleicht auch das Leben haben darin wenig Platz.

Engel haben trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen Eingang in die Philosophie von heute gefunden. Giorgio Agamben, Michel Foucault, Michel Serres gehören als „Mittler“ zu ihnen.

Agamben präsentiert Engel nach altem Vorbild als Beamte Gottes, als Bevölkerung und Diener des Gottesstaates. Der funktionale und der heroische Aspekt werden hervorgehoben, Engel vor allem in Preisende (Assistierende) und Vermittelnde (Beauftragte nach dem Verständnis von Thomas) unterschieden. Dabei fungieren Engel als die, die das Große im Kleinen umsetzen und daher notwendig zur Regierung des Gottesstaates sind, und werden zum Modell der Bürokratie an sich. Gott braucht nach diesem Verständnis die Engel, seine Größe braucht die Preisenden, die ihn dazu machen und sein Wirken ermöglichen.[22] Neben den schützenden, fürbittenden Cherubim (vier Flügel) und den anbetenden Seraphim (sechs Flügel) hindert Cherub Michael, der auch vor der Paradiespforte steht (wie immer diese auch gestaltet sein mag), die wiss- und lustbegierigen Adam und Eva daran, wieder das Paradies, den Ort von Wohlstand und Fruchtbarkeit, zu betreten. Die göttliche Fruchtbarkeit wird demnach von den Engeln beschützt, die Lust der Menschen bestraft und Eros bzw. die Liebesgöttinnen zu einem gewissen Grade „dämonisiert“, aus dem Mysterium wird das Ministerium dies- und jenseits der Aufklärung.

Serres stellt diesem geordneten Gottesstaat eine anarchische und gleichzeitig ordnungs- und welten-, ja religionenverbindende, fast pantheistische, allgegenwärtige Fülle von Engeln gegenüber: „Ja, die Boten nehmen die Straße, die Schlingel unter den Engeln tummeln sich auf Pfaden und Wegen und steigen über Balustraden. Von unten ist immer ein Stück Knie zu sehen. Die Straßenkinder klettern die Säulen hinauf, sie hängen in Trauben an Balkonen und umgehen den Ordnungsdienst; sie sehen sich, ohne zu bezahlen, jedes Schauspiel an und lachen über Gesetze, ihr schwirrender Schwarm ermüdet den Gehorsam; der Raum gehört ihnen, sie halten ihn durch Überschwemmung, durch Wellen und ständig wachsende Zahl, durch subtile Überbrückung der Zwischenräume. Außerhalb der Wege gehen Engel durch Mauern hindurch, die Gitter der Paläste und Gefängnisse bieten ihnen keinen Widerstand; sie befreien die Gefangenen, kennen kein Hindernis und kein Ruhen. Sie sind unsichtbar und sichtbar, still und laut, verborgen und Lichtträger; in ihrem Flug überschreiten sie nicht nur die gewöhnlichen Schwellen, sondern dringen auch durch die Fenster ein wie der Schall: Ihr Körper nimmt vermutlich die Gestalt von Wellen an.“[23]

„Geschickt unterlaufen sie die Mengenlehre, dringen durch die Mauern der Strenge wie durch die der Gefängnisse. Ihr Körper überschreitet Grenzen, ihre Zahl entzieht sich der Berechnung, ihre Logik findet das Starre allzu streng. Oder vielmehr, sie wohnen in den verschiedenen Etagen, laufen aber lärmend die Treppen von Stockwerk zu Stockwerk hinauf und hinunter, ihr Schwarm verwischt den Abstand zwischen ihnen. Können die Engel sich zwischen Dimensionen drängen? Im Angesicht des einen Gottes zeugen sie so vom Polytheismus, gegenüber dem Heidentum verkünden sie den Monotheismus, und überall verbreiten sie den Pantheismus, wenn sie in den Feldern singen …, gegenüber dem Exakten stehen sie für die Unschärfe, gegenüber dem Einzigartigen für das homogene Gesetz, sie nähen die Fetzen zusammen und zerreißen das Gleichförmige, sind Frauen für die Männer, Männer für die Frauen, Männchen für die Weibchen, Odem der Welt, Licht der Sterne, Leben der Tiere, Geister der Sprache, sie verbinden das Unverbundene, lösen, was zusammenhängt, verknüpfen die Ordnungen untereinander und trennen sie voneinander. Sie sind niemals irrational, sondern verkünden lärmend die Vernunft; stets halten sie sich eng an die Logik und ans Exakte.“[24]

„Den Engeln gelingt von jeher etwas, das ich schon seit langem zu denken versuche: eine Welt, die zugleich durchmischt, lodernd, streng, hermetisch, panisch, heiter und offen ist; eine Philosophie der Kommunikation, die von netzförmigen Systemen und Störfaktoren durchzogen ist und zu ihrer Begründung einer Theorie der Mannigfaltigkeiten, des Chaos, des Lärms und des Rauschens bedarf, die jeder Theorie vorausliegen.“[25]

Der Überschwang des Lobes der Kommunikation und der Unschärfe, auch der neuen Technologien und Medien, geht allerdings nicht weiter auf den Aspekt des Erotischen und der Fruchtbarkeit oder gar des Mysteriums ein, sondern setzt voraus, dass die allgegenwärtige, wenig geordnete Kommunikation selbst dies als „Logik“ in sich trägt; seine Legende der Engel schreibt Serres dennoch als Dialog zwischen einem Mann und einer Frau, und er beendet ihn mit derHilfe bei der Geburt eines neuen kleinen „ausländischen“ Wesens: in einem Flughafen …

Die Ansätze von Agamben und Serres scheinen die heutigen Antagonisten eines möglichen Engel- und vielleicht auch Kulturkonzepts zu sein.

Als die überzeugenderen zeitgenössischen Mittlerinnen zwischen Mythos und Gegenwart können jedoch vielleicht die Psychologie und die Neurologie, vielleicht auch die Kunst betrachtet werden.

Der Engel in der Kunst wurde wie schon erwähnt aus babylonischen und ägyptischen geflügelten Mischwesen und Überbringern des Lebens weiterentwickelt. Die heute geläufigen Engelbilder sind Resultate einer langen Entwicklung der Inspiration von ganzen Künstlergenerationen. Anfänglich wurden Engel ohne Körper dargestellt, dann ohne Flügel, schließlich bekamen sie Flügel und Körper, manchmalauch vier oder sechs Flügel. Abgesehen von dieser Wandlung der äußeren körperlichen Merkmale und von sehr unterschiedlichen Ausdrücken – von der Entrücktheit über das Furchteinflößende, die Strenge bis hin zum Lächeln – unterschieden sich auch die Funktionen der Engel, Überbringen und Beschützen: Gabriel soll verkündigen, Michael die Paradiespforte versperren; schließlich wandeln sich auch die wohlgeordneten Engelscharen aus der starren Verherrlichung zu ausgelassenen Teilnehmern einer barocken Party, um dann wieder als vereinzelte Engelamoretten lieblich zu werden: als von Liebe zeugende, glückliche Kindergestalten anstatt der sonst schwer fassbaren und eigentlich unsichtbaren Boten des Lebens.[26] Engel im Alltag bzw. in der Populärkultur sind also vielleicht nur augenscheinlich und womöglich auch gänzlich unverstanden expliziter geworden.

Zeitgenössische künstlerische Positionen dazu entstehen fortwährend, hier sei nur auf die Liebesgeschichte in dem nicht mehr so ganz neuen Film von Wim Wenders Der Himmel über Berlin verwiesen, in der französischen Version betitelt Les ailes du désir (Die Flügel des Begehrens). Auch der erfolgreichste Film aller Zeiten, James Camerons Avatar – Aufbruch nach Pandora, erzählt eine Liebesgeschichte inklusive Wiederauferstehung als Wiederauflage der alten orientalischen Mythen durch Verbindungen zu Himmelsvögeln und Lebensbäumen als Ausstieg aus dem Reich der Maschinen- und Gelddiktatur … Und Matthew Barney inszeniert in seinem Cremaster Cycle mögliche biologische und neurologische Abläufe als eine moderne Fabel mit Heißluftballon und Goodyear (und zahlreichen Flügel- und Schwebemetaphern) und repräsentiert ein Stadium des „puren Potenzials“ eines undefinierten reproduktiven Systems.[27]

Cathrin Pichler schreibt in ihrem Text über Engel von einem schwer fassbaren „energon“, als das Engel heute vielleicht zu verstehen seien. In Das Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche/Pontalis findet sich kein Eintrag zu „Engel“, dieser käme aber zwischen den Lemmata „Energie, freie – gebundene“ und „Entgegenkommen, somatisches“ (letzteres wird mit der Hysterie und einer narzisstischen – siehe weiter unten August Ruhs – Besetzung des eigenen Körpers verbunden). Sigmund Freud unterscheidet in freie und gebundene Energie und geht damit auf Josef Breuer und den Physiker Hermann von Helmholtz zurück. Helmholtz unterteilt in die lebendigen Kräfte (von Leibnitz übernommen) und die Spannkräfte, und Breuer versucht, eine „potentielle, im Nervensystem vorhandene Energieform zu definieren, die er ‚intrazerebrale tonische Erregung‘ oder ‚nervöse Spannung‘ oder auch ‚ruhende Energie‘ nennt“ (als Teil des zweiten thermodynamischen Prinzips, es geht also um die Verbreitung von Wärme im Raum). Diese Unterscheidung findet sich heute im Prinzip der Neuronenträgheit und -bindung, letztere basiert auf der Existenz von „Kontaktschranken“, die den Übergang vom einen zum anderen Neuron hindern (und auf der hemmenden Funktion des Ich).[28] Freud übernimmt die freie und die ungebundene Energie in die Traumdeutung und integriert sie in seinen Ausführungen zur „Bindung“, die zentral für die Ausbildung des Ich und der Bindungsfähigkeit ist. Die Bindung wiederum wird in der letzten Triebtheorie zum Hauptmerkmal der Lebenstriebe: „… sie [diese Energie] würde noch immer an der Hauptabsicht des Eros, zu vereinigen und zu binden, festhalten, indem sie zur Herstellung jener Einheitlichkeit dient, durch die – oder durch das Streben nach welcher – das Ich sich auszeichnet.“[29]

Die Traumdeutung wiederum beschreibt Schwebeträume vor allem als lustvoll und erotisch und mit Bewegung verbunden; bei Männern gelten Flugträume als von „grobsinnlicher Bedeutung“, als Erektionsträume. Abbildungen davon sind beispielsweise die geflügelten Phalli der Antike, Engel sowie ganze Engelscharen (vor allem in Kirchen) wären auch in diesem Zusammenhang zu denken.[30] Die Kopftuchpflicht für Frauen als Schutz vor dem Phallischen erscheint bei einem solchen Engelbild nur allzu verständlich. Andererseits stehen Engel in Träumen in der Esoterik auch für den Wunsch nach bedingungsloser Liebe und Unterstützung, als Boten des Glücks und in spiritueller Hinsicht als Symbole für reines Sein. August Ruhs berichtet in seinen Gedanken zum Engel wieder von einer Liebesgeschichte – von Narziss und Echo, von Bild und Stimme, vom Selbst und vom Anderen: Können sie sich versöhnen? Kann Narziss damit aufhören, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Echo darauf hoffen, ihm wieder zu begegnen, von ihm gehört bzw. (durchaus auch mit dem Mobiltelefon, per mail, Facebook oder über Skype) „angerufen“ zu werden? Sein Begehren zu wecken und etwas miteinander zu machen?[31]

Lacan vermischt im Hinblick auf den Engel, und zwar den lächelnden Engel, „Dummheit“ bzw. Sinnlosigkeit und Bedeutsamkeit. Er führt am Beispiel der Engelfigur die Möglichkeit in die Psychoanalyse ein, dass Analyse keineswegs Bedeutung bzw. Sinn finden heißt.[32] Es geht anstelle dessen um eine Begegnung mit etwas, das bedeutsam ist, aber nicht unbedingt im Sinne von Erkenntnis oder Wissen. Ein ursprünglicher Signifikant (quasi als Bild für die Urkeimzelle, den Urstoff, die Ursuppe oder den Vater, die Mutter?) kann weder niedergeschrieben noch analysiert bzw. geteilt werden. Wir wissen, wenn wir einem solchen Signifikanten begegnen, was er bedeutet, können es aber nicht artikulieren: Es liegt der Entstehung der (menschlichen) Welt zugrunde. Lacans Beispiel, der lächelnde Engel, habe ein „dummes“ Lächeln, denn es berge keine Botschaft, und dennoch sei es wahrhaftig bedeutsam und sogar „kreationistisch“, die Möglichkeit der Möglichkeiten: „il nage dans le signifiant suprême.“[33] Das menschliche Leben beginnt für ihn mit dem Aufgeben dieser Ursuppe (oder des schwarzen Lochs, des Nichts) und der Entstehung des Begehrens.[34] Massimo Cacciari formuliert ein wenig anders, aber in derselben Richtung: der notwendige Engel für die Freiheit des Seins ohne Ding(e).[35]

In der Welt der Dämonen scheint der lächelnde Engel einfach notwendig ...


Postskriptum

Scheinbar fernab von der Welt der traditionellen Engel gelten heute Biochemie und Reproduktionsmedizin als Überbringerinnen des Lebens. Sie sind Hoffnung und Pandämonium zugleich: Hoffnung auf Leben für die 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung, die als unfruchtbar gelten, Verkünderinnen und Laboratorien für das sogenannte technologisch und chemisch unterstützte ewige Leben (vgl. „Werden wir ewig leben?“, Symposium im Literaturhaus Berlin im September 2010[36]). Der Traum der Menschheit von der Ewigkeit scheint in greifbarer Nähe und ist dennoch in noch weitere Ferne gerückt. Weder das Genom noch die neuesten Reproduktionstechniken können das Geheimnis des Lebens lüften. Bestandteile des Seins sind bekannt, aber das Dazwischen bleibt ein Enigma. Von energetischen Ladungen ist die Rede, von „Ladungen“, von Plus und Minus (von Begehren?). Und irgendwie scheinen diese Ladungen, die Pole, von dem abhängig zu sein, was ringsum passiert, sie interagieren mit dem „Umfeld“ und dessen „Energien“.[37] Liebe, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Berührung und Bewusstsein scheinen zu ihnen zu gehören, im Labor allein funktioniert das „Leben“ nur sehr begrenzte Zeit.

Die technischen Grenzen spiegeln sich in Statistiken, Wahrscheinlichkeitstabellen und -werten, die trotz aller Wissenschaft zugeben, dass die Ermöglichung des unwahrscheinlichen Lebens wieder nur auf Wahrscheinlichkeiten verweisen kann. Diese Wahrscheinlichkeiten heißen für die Betroffenen „Zufall“ und Hoffnung (Vorhersehung und Engel?). „Techniker“ und Wissenschafter geben zu, dass jede Form von positiver Energiezufuhr, in einem sehr „untechnischen“ Sinne von Zuneigung, Wärme, Berührung, Licht, Vertrauen zu den behandelnden Ärzten und Sprechen (psychologische Betreuung), „hilft“, empfehlen neben allerlei Hormonpräparaten (Botenstoffen der Fruchtbarkeit wie Follitropin, Menotropin, Choriogonadotropin, Progesteron etc.) schöne Erlebnisse, Sonnenlicht bzw. Vitamin D, Qi Gong und Shiatsu. Die oben erwähnten Störche in den Wartezimmern helfen vielleicht auch.

Religionen und Ethiker streiten über die moralischen Grenzen und sind sich weiterhin uneinig. Der Traum vom ewigen und vom Menschen „gemachten“ Leben mag ein menschlicher, jedoch auch ein luziferischer sein, denn was tun mit all der Zeit, all den Körpern und Begehrlichkeiten in einer Epoche der weltweiten Bevölkerungsexplosion?

Aber der Traum vom Leben bleibt immer mehr Menschen vielleicht durchaus aus eigenem Verschulden verwehrt, wenn sie auf humangenetische Hilfe verzichten und sich ganz der Melancholie hingeben. Ist die humangenetische Unterstützung der Prokreation für sie „schlecht“, obwohl sie möglich ist?

Und ist die Wahrscheinlichkeit auch ein Instrument der Engel, als Konzeptualisierung des „Seinkönnens“, des Möglichen, aber Ungewissen? Ist sie die zeitgenössische Version der unbefleckten Empfängnis als Folge einer zunehmenden Trennung von Eros und Agape, von Körper und Geist?

Die wissenschaftliche Community hat jedenfalls einem der Pioniere der In-vitro-Fertilisation, Robert G. Edwards (er arbeitete mit dem Gynäkologen Patrick Streptoe), 2010 den Nobelpreis verliehen. Die Gefährdung der einen Zelle,der Beinahe-Tod, ermöglicht erst die Vereinigung und das „Wachsen“. Und die vier Millionen bisher auch dank dieser Technologien auf die Welt gebrachten Kinder müssen Rilke widersprechen, wenn er behauptet: „Jeder Engel ist schrecklich“[38], sich für ihr wirkliches Leben bedanken, und bleiben für ihre jeweiligen Eltern Engel und Bengel..

PPS

Was die Sphäre der Ökonomie anbelangt, so sieht sie sich noch immer als Schöpferin des Wohlstandes und Reichtums, das Finanzwesen als Schöpfergemeinschaft des Geldes. Die Stichhaltigkeit dieser Form der Schöpfung kann durchaus bezweifelt werden. Die unzähligen unverstandenen Finanzprodukte können jedenfalls durchaus als Dämonen verstanden werden, obwohl sie ursprünglich als gegenseitige vielleicht engelhafte Absicherung gegen Allzugroße (auch naturbedingte, wie das Wetter) Risiken darstellte[39]. (siehe Derivate, Gerald Nestler).

„[…] and the end of history would be that moment when all slates are wiped clean and all debts finally lifted when a great blast from angelic trumpets will announce the final Jubilee.“ (If so, „redemption“ is no longer about buying something back: It‘s really more a matter of the entire system of accounting.) David Graeber, Debt: the first 5,000 years. New York 2011, S.82

Einzelnachweise

  1. Cathrin Pichler, „Engel, Engel“, in Cathrin Pichler (Hg.): :Engel :Engel. Legenden der Gegenwart, Wien und New York 1997, S. 72.
  2. Vgl. Bernhard Siegert: „Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien“, in Horst Wenzel (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997, S.45–62; vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S.122ff.
  3. „goth. aggilus, ahd. angil, engil, ags. engel, engl. angel, altn. engill, lit. angělas, russ. angel«, poln. aniøl, böhm. angel, anděl, ir. aingeal, it. angelo, sp. angel, franz. ange.“ Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm im Internet, aufgerufen am 11. 10. 2010.
  4. Thomas Macho: “Himmlisches Geflügel“, in Pichler (Hg.) 1997, S. 83.
  5. Vgl. Mircea Eliade: Die Schöpfungsmythen, Düsseldorf 2002; Manfred Lurker: Lexikon der Götter und Dämonen, Stuttgart 1989; Macho 1997, S. 83–100.
  6. Vgl. Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988, S.100ff.
  7. Vgl. Lurker 1983, S. 189. Indra soll das Wasser befreit, die Sonne, den Himmel und die Morgenröte hervorgebracht sowie die (heiligen) Kühe gerettet haben; vgl. Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole, Köln 1981; vgl. auch Axel Michaels: Der Hinduismus, München 2006.
  8. Vgl. Charles Virolleaud: „Die große Göttin in Babylonien, Ägypten und Phönizien. Ischtar, Isis, Astarte“, in Eranos-Jahrbuch 6, München1938.
  9. Vgl. Othmar Keel: „Die weiße Taube als Symbol der Liebesgöttinnen und des Heiligen Geistes“, in Othmar Keel und Thomas Staubli: „Im Schatten Deiner Flügel“. Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Freiburg 2001, S. 61ff.
  10. Vgl. Lurker 1989, S. 27; Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1991, S. 226; Manfred Lurker: Lexikon der Götter und Symbole der alten Ägypter, Frankfurt a. M. 2010, S.41f.
  11. Macho 1997, S. 86.
  12. Vgl. Hans Bonnet: „Hermes Trismegistos“, in ders. Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte, Hamburg 2000, S. 289f.
  13. Vgl. Hans Bonnet: „Orakel“, in ders. Lexikon der ägyptischen Religionsgeschichte, Hamburg 2000, S. 560–564.
  14. „Außerdem galt die Taube im ganzen antiken Vorderasien als Überbringerin von ‚Kinderkeimen‘ (Mariä Verkündigung bzw. Empfängnis); bei den Germanen war es bekanntlich der Storch.“ Vgl. Ferdinand Freiherr von Reitzenstein: „Der Kausalzusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Empfängnis in Glaube und Brauch der Natur- und Kulturvölker“, in Zeitschrift für Ethnologie 5, 1909, S. 644–683.
  15. Vgl. Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Berlin 1970.
  16. Vgl. Alfred Stolz: Schamanen. Ekstase und Jenseitssymbolik, Köln 1988, S. 84–88.
  17. Macho 1997, S. 84.
  18. Platon: Symposion. Gastmahl. Griechisch-Deutsch, Hamburg 2000, 202e, S. 83.
  19. Vgl. Rafael Capurro: „Theorie der Botschaft“, in ders.: Ethik im Netz, Stuttgart 2003, S.105–122.
  20. Vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S.9–19.
  21. Andrei Gabriel Pleşu: „Engel: Elemente für eine Theorie der Nähe“, in Pichler (Hg.) 1997, S. 20ff.
  22. Dieses hierarchische Denken geht von Athenagoras über Pseudo-Dionysius, Clemens von Alexandrien hin zu Thomas über und verspricht eine oikonomia der vollkommenen Gerechtigkeit. Als Ausgangstext für diese oikonomia gilt die paulinische Ökonomie des Mysteriums, die sich zum Mysterium der Ökonomie wandelte und somit Hermetisches aufweist; zudem folgte eine ständige Vermischung von Mysterium und Ministerium, hin zum Ministerium. Vgl. Giorgio Agamben: Die Beamten des Himmels. Über Engel, Frankfurt a. M. und Leipzig 2007, S.53–56.
  23. Michel Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt a. M. und Leipzig 1995 (Orig.: La légende des anges, Paris 1993), S. 84f.
  24. Ebd., S. 91f.
  25. Ebd., S. 93.
  26. Vgl. Gottfried Knapp: Engel. Eine himmlische Komödie, München, London und New York 1999; Nancy Grubb: Engel, München 1996; Alfons Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes, München 1986.
  27. Vgl. http://www.cremaster.net: „Inhabiting both blimps simultaneously, this doubled creature sets the narrative in motion. After prying an opening in the tablecloth(s) above her head, she plucks grapes from their stems and pulls them down into her cell. With these grapes, Goodyear produces diagrams that direct the choreographic patterns created by a troupe of dancing girls on the field below. The camera switches back and forth between Goodyear’s drawings and aerial views of the chorus girls moving into formation: their designs shift from parallel lines to the figure of a barbell, from a large circle to an outline of splitting and multiplying cells, and from a horizontally divided field emblem (Barney’s signature motif) to a rendering of an undifferentiated reproductive system (which marks the first six weeks of fetal development). Gliding in time to the musical score, the chorus girls delineate the contours of a still-androgynous gonadal structure, which echoes the shapes of the two blimps overhead, and symbolizes a state of pure potential.“
  28. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S.131–134; vgl. Sigmund Freud: Das Unbewußte (1915), Ende des IV. Kap., in Gesammelte Werke X, und Jenseits des Lustprinzips (1920), in Gesammelte Werke XIII, S. 26; Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, Leipzig 1847, S. 14.
  29. Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), in Gesammelte Werke XIII, S. 274.
  30. Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 2002, S. 393f.
  31. Vgl. August Ruhs: „Der Engel, ganz Stimme“, in Pichler 1997, S. 114f.
  32. Vgl. Jacques Lacan: The Seminar of Jacques Lacan, Book XX: Encore: On Feminine Sexuality, The Limits of Love an Knowledge, New York 1998, S. 20; Todd McGowan und Sheila Kunkle: Lacan and Contemporary Film, Pittsfield 2004, S. 4.
  33. McGowan und Kunkle 2004, S. 4.
  34. Jacques Alain Miller (Hg.): Jacques Lacan. Das Seminar. Buch III. Die Psychosen, Weinheim und Berlin 1997, S.234–239.
  35. Vgl. Massimo Cacciari: Der notwendige Engel, Klagenfurt 1997.
  36. Vgl. Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt (Hg.): Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie, Frankfurt a. M. 2010, kontroverse Interviews zum Thema, ausgehend von den Thesen von Ray Kurzweil, mit Chemie-Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn, dem Stammzellforscher Hans Schöler, dem Hirnforscher Wolf Singer, dem Demografen James W. Vaupel und dem Technikethiker Bert Gordijn.
  37. Vgl. Bruce H. Lipton: The Biology of Belief: Unleashing the Power of Consciousness, Matter, & Miracles, Carlsbad und London 2008. Obwohl er den Esoterikern zugerechnet wird, ist Lipton nicht als isolierter Fall eines Biologen anzusehen, der Geist und Wissenschaft miteinander zu denken versucht.
  38. Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 327 und 633.
  39. Irini Athanassakis: „Das Spiel mit dem Geld“, in Ernst Strouhal/Matthias Fuchs (Hg.): Das Spiel und seine Grenzen. Passagen des Spiels II, Wien 2010, S.245-262.